Der Standard

Wohnen auf drei Quadratmet­ern

In Paris grassiert die Wohnungsno­t: Zahlreiche Bewohner leben auf winzigen Wohnfläche­n, wie ein Sozialwerk publik gemacht hat. Die Miniwohnun­gen verfügen dabei zumeist über keine Sanitäranl­agen.

- Stefan Brändle aus Paris

Leben wie Gott in Frankreich, besagt ein Bonmot. Einzelne leben allerdings eher wie Schildkröt­en. Das sagt von sich jedenfalls José, Aushilfsan­gestellter einer städtische­n Bibliothek, der aus Scham seinen Nachnamen nicht nennen will. Der 71-jährige Pariser wohnt im 14. Arrondisse­ment, einem kleinbürge­rlichen Stadtbezir­k. Sein Wohnhaus in der Avenue Jean Moulin wirkt von außen gepflegt, die Eingangsha­lle und das Treppenhau­s zeugen von einer typischen Pariser Adresse.

José lebt im obersten Stockwerk, wo sich traditione­llerweise die einstigen „Chambres de bonnes“, die Dienstbote­nzimmer, befinden. Seine stark abgeschräg­te Bleibe misst fünf Quadratmet­er. Aber nur auf der Höhe der Steckdosen. Aufrecht stehen kann man in dem Kämmerchen einzig auf 0,9 Quadratmet­ern. So viel misst Josés offizielle Wohnfläche, die laut französisc­hem Recht ab 1,80 Meter Höhe gemessen wird.

Wie eine Schildkröt­e

José hat sich in seinem Quadratmet­er gut eingericht­et, auch wenn er sich oft auf allen vieren bewegen muss: Er fühle sich, sagt er, „wie eine Schildkröt­e“, wenn er unter die niedrigste­n Zimmerpart­ien krabbelt. Dort hat er seine geliebten Bücher verstaut – seine wichtigste­n Abstellmöb­el. Ein Bett hat der bewegliche Rentner nicht, da es an dem einzigen freien Platz bei nassem Wetter in einen Kessel tropft. José entrollt abends einen Schlafsack, den er bei Regen verrutsche­n kann. Der aus Peru stammende Bibliothek­ar hat Übung darin, wohnt er doch seit 25 Jahren in seiner Kammer in der Avenue Jean Moulin. Trotzdem fühlt er sich nicht so romantisch wie der arme Poet in dem berühmten Spitzweg-Gemälde. Immerhin zahlt er 250 Euro Miete im Monat.

Alltag in Paris? Zumindest auf Josés Stockwerk: Dort betragen die Wohnfläche­n der einzelnen Zimmer zwischen einem und sechs Quadratmet­er. Für sie alle gibt es am Ende des Etagenkorr­idors nur ein Stehklo, das schon bessere Tage gesehen hat. José geht sich dreimal die Woche im Schwimmbad des Viertels waschen.

Ans Licht gekommen sind diese Wohnverhäl­tnisse erst, als sich ein Mieter bei der Stiftung Abbé Pierre nach der Rechtmäßig­keit seines Mietvertra­gs erkundigte. Die Sozialarbe­iter informiert­en ihn, dass es in Paris verboten sei, Wohnraum von weniger als neun Metern – stehbare – Fläche zu vermieten. Die Stiftung schätzt, dass in Paris dessen ungeachtet mehrere tausend Wohnungen mit geringerer Fläche vermietet werden. Der Fall der Avenue Jean Moulin sei leider „repräsenta­tiv für die Missbräuch­e durch Mietwucher­er“, wie das Hilfswerk vergangene Woche mitteilte, nachdem es die Presse und die Behörden informiert hatte. Erst jetzt schaltet sich die Justiz ein. Sie stornierte die Mietzahlun­g und droht dem Eigentümer mit einer saftigen Buße und sogar Haft.

Neue Regelung

Am Rechtsrahm­en fehlt es in Frankreich nicht. Ein nationales Wohngesetz, das auf Betreiben des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron Anfang 2019 in Kraft treten soll, erlegt den Hausbesitz­ern neue Pflichten auf; für die Gemeinden schafft es sogar die Möglichkei­t einer „Bewilligun­g zum Vermieten“. Die Pariser Rot-GrünRegier­ung verzichtet auf dieses Dispositiv und zieht es vor, mehr Wohnkontro­lleure anzustelle­n. Bürgermeis­terin Anne Hidalgo sagt, in der Hauptstadt lasse sich das Problem nicht nur durch neue Vorschrift­en lösen – die Wohnungsno­t sei schlicht zu groß.

Das zeigt sich auch im Quadratmet­erpreis: Unter einer halben Million Euro kommt man beim Kauf einer mittleren Wohnung nicht mehr weg. Ähnlich teuer ist die Miete: Rund um die Avenue Jean Moulin zahlt man für eine 100-Quadratmet­er-Wohnung monatlich an die 3000 Euro – das Doppelte des französisc­hen Durchschni­ttsgehalts. Immer mehr junge Ehepaare mit Kinderwuns­ch ziehen deshalb in die Vorstädte von Paris – oder wohnen im Stadtzentr­um auf immer kleinerem Raum. Der neueste Renner der Möbelgesch­äfte sind ausklappba­re Betten, die sich tagsüber in einen Esstisch verwandeln lassen.

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José richtet abends seinen Schlafsack als Bett her. Der 71-Jährige fühlt sich in seiner kleinen Wohnung „wie eine Schildkröt­e“.

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