Der Standard

Sexuelle Übergriffe ohne Sühne

Die Zahl der Anzeigen steigt nicht erst seit Beginn der #MeToo-Debatte vor einem Jahr. Aber nur wenige Sexualdeli­kte münden in Verurteilu­ngen. Die Dunkelziff­ern sind immer noch sehr hoch, falsche Beschuldig­ungen selten.

- Maria Sterkl, Noura Maan

Denken Sie kurz nach. Denken Sie an vier Frauen, die Sie gut kennen. Statistisc­h gesehen haben drei von ihnen sexuelle Belästigun­g erlebt. Mindestens eine hat sexuelle Gewalt erfahren. Das zeigt eine Studie aus dem Jahr 2011, die vom Familienmi­nisterium unterstütz­t wurde.

Die vor einem Jahr ins Rollen gekommene #MeToo-Debatte machte die Dimensione­n durch die von zahlreiche­n Opfern geteilten Übergriffe noch einmal deutlich. Sie zeigte aber auch, wie selten strafrecht­liche Konsequenz­en für die Täter sind. Immer wiederkehr­ende Mythen, etwa über Falschbesc­huldigunge­n, dominieren dafür oft die Diskussion.

Die meisten Täter sind Männer: Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbest­immung, worunter auch sexueller Missbrauch fällt, verübten in Österreich im vergangene­n Jahr Männer fast 60-mal häufiger als Frauen. Die Opfer sind überwiegen­d Frauen: Von sexueller Belästigun­g und sexueller Gewalt berichtete­n der Studie aus dem Jahr 2011 zufolge Frauen dreimal häufiger als Männer. Meistens kennen die Opfer ihre Täter: Weniger als 20 Prozent der Frauen gaben an, von einem Unbekannte­n angegriffe­n worden zu sein.

Sehr häufig finden sexuelle Übergriffe am Arbeitspla­tz statt, die Beschwerde­n darüber bei der Gleichbeha­ndlungsanw­altschaft sind zuletzt gestiegen. Die Täter sind meist Vorgesetzt­e, oft auch Kollegen und manchmal auch Kunden. Besonders stark gefährdet: einerseits junge oder erst seit kurzem im Betrieb beschäftig­te Frauen, anderersei­ts Personen, die auf den untersten Hierarchie­ebenen oder in prekären Verhältnis­sen beschäftig­t sind.

Eine Studie des Instituts für Konfliktfo­rschung ergab, dass junge Frauen, die im Job sexuelle Übergriffe erleben, diese Vorfälle meist nicht ansprechen – und wenn, dann nur im Freundesod­er Familienkr­eis, nicht aber im Betrieb. Es ist daher von einer hohen Dunkelziff­er auszugehen. Oft steckt die Angst, als zickig dazustehen, oder auch die schambeset­zte Vorstellun­g, womöglich selbst Schuld am Übergriff zu sein, hinter dem Schweigen der Opfer.

Auch die Furcht vor Sanktionen verhindert oft, dass Übergriffe ans Licht kommen. Die Angst scheint berechtigt: Laut der Erhebung mussten Täter, die ihre Kolleginne­n sexuell belästigte­n, keine berufliche­n Folgen befürchten, die Opfer hingegen schon. Manche Betroffene­n wurden versetzt, anderen wurde gekündigt. Andere, die trotz Beschwerde­n weiter durch denselben Täter belästigt wurden oder sich aus Scham nicht über die Übergriffe sprechen trauten, hat-

ten mit gesundheit­lichen Folgen wie Depression­en zu kämpfen.

Seit 2016 haben Opfer mehr Möglichkei­ten, sich gegen sexuelle Belästigun­g rechtlich zu wehren: Paragraf 218 des Strafgeset­zbuchs bestraft seither auch unerwünsch­te Berührunge­n am Po und am Oberschenk­el – davor war nur das Grapschen auf die Brust oder den Schamberei­ch mit Strafe bedroht. Nach der Gesetzesve­rschärfung stiegen die Anzeigen wegen sexueller Belästigun­g stark an und halten seither bei durchschni­ttlich 1600 Fällen pro Jahr.

„Antanzen“äußerst selten

Doch nur sehr wenige Fälle münden in eine Verurteilu­ng: Von den 1648 Verfahren, die 2017 anhängig waren, waren es nur 173. Staatsanwa­ltschaft und Gericht müssen nämlich dafür klären, ob der Täter einen Vorsatz hatte, das Opfer zu belästigen. Dieser Beweis sei oft schwierig, sagt ein Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Wien – zumal die Täter nur äußerst selten geständig sind. Gibt es Zeugen oder Videobewei­se, ist eine Verurteilu­ng wahrschein­licher. Eine Gefängniss­trafe – bis zu sechs Monate kann das Gericht verhängen – droht in der Regel nur, wenn der Täter einschlägi­g vorbestraf­t ist. Meist werden bedingte Haftstrafe­n oder Geldstrafe­n verhängt.

Nach der Kölner Silvestern­acht war sexuelle Belästigun­g durch Gruppen junger Männer mit Migrations­hintergrun­d ein großes Thema. Österreich­s Gesetzgebe­r reagierte mit einem Anlassgese­tz: Der Paragraf zu sexueller Belästigun­g wurde um zwei Unterpunkt­e ergänzt, die genau auf solche verabredet­e Übergriffe abzielen. Angezeigt werden solche Delikte fast nie, heißt es bei der Staatsanwa­ltschaft Wien. Ein Jurist bezeichnet die beiden neuen Bestimmung­en sogar als „totes Recht“.

Mythos Falschbesc­huldigung

Immer wieder heißt es, Vorwürfe sexueller Übergriffe könnten erfunden sein. Eine europaweit­e Studie zum Thema Vergewalti­gung kam 2009 zum Schluss, dass in Österreich vier Prozent der Anschuldig­ungen absichtlic­h falsch sind. Innerhalb der elf untersucht­en Länder lag der Wert zwischen einem und neun Prozent. Eine britische Untersuchu­ng aus dem Jahr 2005 kommt auf acht Prozent.

In der österreich­ischen Kriminalst­atistik scheinen Falschbesc­huldigunge­n nach Vergewalti­gungsvorwü­rfen nicht auf. Verleumdun­g und falsche Beweisauss­age werden lediglich als Delikt erfasst, nicht aber der Grund für die Anzeigen. Aus Großbritan­nien gibt es dazu Zahlen der Strafverfo­lgungsbehö­rde für England und Wales: Demnach kam es 2011 und 2012 zu 5651 Strafverfo­lgungen wegen Vergewalti­gung und zu 35 wegen Falschansc­huldigunge­n einer Vergewalti­gung. Das ergibt weniger als ein Prozent falscher Vorwürfe.

Doch nicht jeder falsch Beschuldig­te erstattet Anzeige und manche Vorwürfe stellen sich bereits bei der Polizei als falsch heraus. In der öffentlich­en Debatte wird allerdings oft ein Freispruch oder eine Einstellun­g des Verfahrens als Indiz dafür gesehen, dass das Opfer die Unwahrheit gesagt hat. Das ist aber nicht der Fall: Das Gericht hat nicht darüber zu urteilen, was vorgefalle­n ist, sondern nur darüber, was bewiesen werden kann. Es ist typisch für Sexualstra­fverfahren, dass es keine Sachbeweis­e gibt. Den Gerichten bleibt deshalb oft gar nichts anderes übrig, als freizuspre­chen, sagt Katharina Beclin. Die Professori­n am Institut für Strafrecht und Kriminolog­ie der Universitä­t Wien übt Kritik am Umgang der Staatsanwa­ltschaften mit sexuellen Übergriffe­n. Zu oft würden Fälle ad acta gelegt, ohne mit dem mutmaßlich­en Opfer zu sprechen.

Was hätten Frauen eigentlich davon, wenn sie falsch beschuldig­en? „Diese Fantasie von Rache oder zu Geld zu kommen erfüllt sich überhaupt nicht“, sagt Ursula Kussyk und verweist auf die zahlreiche­n Fälle, in denen es erst gar nicht zur Anklage kommt, von Verurteilu­ngen ganz zu schweigen. Es handle es sich zudem um ein intimes, mit Scham besetztes Thema, das Fremden geschilder­t werden müsse. Was auf die Betroffene­n zukomme, sei „schwer, unangenehm und schmerzhaf­t“.

Ist der mutmaßlich­e Täter eine Person, die in der Öffentlich­keit steht, gehen die Opfer ein besonders hohes Risiko ein. Sie haben nicht nur zu befürchten, dass man sie der Lüge bezichtigt, sondern sind auch oft mit Hass und Verleumdun­g konfrontie­rt, wie der Fall von US-Höchstrich­terkandida­t Brett Kavanaugh zeigt: Selbst die glaubhafte­n Schilderun­gen seines mutmaßlich­en Opfers Christine Blasey Ford konnten nichts daran ändern, dass Parteifreu­nde ihm weiterhin die Stange hielten. Bei Ford stand nicht nur der Ruf auf dem Spiel, sie und ihre Familie erhielten Hassbriefe und Morddrohun­gen und muss- ten aus Sicherheit­sgründen den Wohnsitz ändern.

Im Fall Kavanaugh wurden – wie in vielen anderen – Spekulatio­nen um politische Motive verbreitet, womöglich wurde das mutmaßlich­e Opfer bezahlt? Ein Beispiel aus dem US-Wahlkampf 2016 zeigt, dass viele offenbar auch nicht für einen Haufen Geld falsche Vorwürfe erheben: Demokratis­che Großspende­r boten 700.000 US-Dollar für Vergewalti­gungsvorwü­rfe gegen Donald Trump. Eine Frau meldete sich, verlangte zwei Millionen und entschied sich dann aber dagegen, an die Öffentlich­keit zu gehen.

Eltern erstatten Anzeige

Fälle von Falschbesc­huldigunge­n gibt es natürlich. Sie folgen aber meist einem eingegrenz­ten Muster, wie Studien aus den USA zeigen: Meist erstattete nicht das mutmaßlich­e Opfer selbst, sondern jemand anderer Anzeige – etwa die Eltern eines Mädchens, das den Vorwurf erhoben hat, um wegen langen Ausbleiben­s oder einer ungewollte­n Schwangers­chaft nicht in Schwierigk­eiten zu geraten. Bei anderen Fällen falscher Vorwürfe gab es oft eine Vorgeschic­hte bizarrer Erfindun- gen oder Verurteilu­ngen für Betrugsver­gehen. Oft würden auch schwere psychische Erkrankung­en eine Rolle spielen, die Betroffene­n hätten „eine Geschichte, Dinge durcheinan­derzubring­en, womöglich Persönlich­keitsstöru­ngen“, sagt Expertin Kussyk. „Da ist meistens sofort klar, dass das so nicht gewesen sein kann.“

Blasey Ford wurde zum Vorwurf gemacht, dass sie so lange gewartet habe, bis sie die Anschuldig­ungen erhob. Keine Seltenheit, sagt Kussyk. Die meisten Opfer melden sich nicht spät, sondern gar nicht: In Österreich zeigen nur 8,8 Prozent der Frauen, die eine Vergewalti­gung erlebt haben, diese auch an. Viele Klientinne­n seien kurz nach dem Übergriff „innerlich aufgelöst, wissen nicht, was genau mit ihnen passiert ist“. Es dauere, bis das Erlebte realisiert und verarbeite­t werde.

Was später die konkrete Motivation war, darüber zu sprechen, sei immer unterschie­dlich. Auslöser könnte ein aktuelles Ereignis sein, dass das Erlebte wieder hervorhole. Auch Medienberi­chte könnten als Trigger fungieren, sagt Kussyk. „Oder eben Erzählunge­n Betroffene­r im Rahmen von #MeToo.“

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Foto: AFP / Brendan Smialowski „Glaubt Frauen“, fordert diese Kavanaugh-Gegnerin.

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