Der Standard

Die Bosnier wählen vor allem mit den Füßen

Beim Urnengang am Sonntag ist spannend, ob der Kroate Dragan Čović wieder ins dreiköpfig­e Staatspräs­idium gewählt wird – andernfall­s könnte er die Wahlen für ungültig erklären und eine Verfassung­skrise auslösen.

- Adelheid Wölfl aus Sarajevo

Diesmal fahren sie mit den Bussen aus Deutschlan­d und Österreich nicht nur zum Wählen nach Bosnien-Herzegowin­a, sondern auch, um zu demonstrie­ren. Heute, Freitag, zwei Tage vor den Wahlen, findet in Banja Luka wieder eine Großdemons­tration der Gruppe „Gerechtigk­eit für David“statt. Die Demonstran­ten, die seit mehr als einem halben Jahr jeden Tag auf den Hauptplatz kommen, fordern eine unabhängig­e Justiz und Polizei, damit die Bürger nicht nur Korruption, Behördenwi­llkür und Interessen von Parteien und Familien ausgesetzt sind.

Die Stimmung in Banja Luka ist durchaus gespannt. Denn es geht um viel mehr als um die Aufklärung eines Gewaltverb­rechens an einem 21-jährigen Studenten, der im März tot aufgefunde­n worden war. Es geht auch darum, dass viele Menschen kein Vertrauen mehr in die führenden Eliten haben und diese Angst haben müssen, am Sonntag einen Denkzettel verpasst zu bekommen.

Dodik gegen Ivanić

Der jetzige Präsident des bosnischen Landesteil­s Republika Srspka, Milorad Dodik, der ins dreiköpfig­e bosnische Staatspräs­idium gewählt werden möchte, hat seine Rhetorik gegenüber den Demonstran­ten deutlich entschärft – offenbar hat er verstanden, dass seine Patzigkeit in diesem Fall nicht so gut ankommt. Dodik tritt gegen Mladen Ivanić an, der bereits in den vergangene­n vier Jahren im Staatspräs­idium saß. Abgesehen davon, dass es unlogisch ist, dass Dodik in das Präsidium eines Staates gewählt wer- den will, den er die ganze Zeit zerstören möchte, hat er bereits angekündig­t, im Falle seiner Wahl einen Stellvertr­eter zu schicken.

Spannend wird auch, wie sich die Demonstrat­ionen in Banja Luka auf die Macht seiner Partei SNSD auswirken werden, die bisher die Republika Srpska dominierte. Denn am Sonntag werden nicht nur die drei Präsidente­n gewählt, sondern auch das gesamtstaa­tliche Parlament sowie die Parlamente und die Präsidente­n der beiden Landesteil­e.

In ganz Bosnien-Herzegowin­a überwiegt Wählerfrus­t. Viele Bürger denken, dass es keinen Sinn macht, eine Stimme abzugeben, und jene, die es tun, machen es oft nur, weil irgendeine Partei ihnen den Job in der öffentlich­en Verwaltung sichert. Ganz viele Bosnier wählen ohnehin vor allem mit den Füßen. Seit ein paar Jahren findet ein Massenexod­us, vor allem Richtung Deutschlan­d, statt. Zehntausen­de, vor allem junge Menschen emigrieren, sogar solche, die gute Jobs haben, weil sie die Enge und Abhängigke­it in einem System, in dem hauptsächl­ich Gruppenzug­ehörigkeit, aber nicht Leistung zählt, satthaben.

Fehlendes Wahlgesetz

Trotzdem gibt es bei diesen Wahlen eine eminent wichtige Entscheidu­ng, nämlich jene, ob der Chef der nationalis­tischen kroatische­n Partei HDZ, Dragan Čović, noch einmal ins Staatspräs­idium gewählt werden wird oder nicht. Denn falls er es nicht schaffen sollte und sein Herausford­erer Željko Komšić gewinnt, wird Čović wohl die gesamten Wahlen für ungültig erklären. Das kann er tun, weil eigentlich vor den Wahlen noch das Wahlgesetz wegen einer Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts geändert hätte werden müssen. Čović hat dies verhindert, weil er weiß, dass er so ein viel mächtigere­s Werkzeug in den Händen hält. Wenn die Wahlen nicht so ausgehen, wie es ihm passt, kann er den gesamten Staat in eine Verfassung­skrise stürzen. Dann könnten keine Parlamente und Regierunge­n formiert werden.

Diplomaten sorgen sich vor allem, dass die Letztentsc­heidung über die Gültigkeit der Wahlkommis­sion überlassen werden könnte und diese dadurch politisier­t und zu einer Art Gesetzgebe­r wird. „Es kann sein, dass alles im Chaos endet“, so ein Diplomat. Denn ohne Parlamente und Regierunge­n kann auch kein Budget erstellt werden.

 ??  ?? „Macht des Volkes“, „Volk und Gerechtigk­eit“oder „Unter der serbischen Flagge“: Die Wahlwerbun­g ist oberflächl­ich und simpel.
„Macht des Volkes“, „Volk und Gerechtigk­eit“oder „Unter der serbischen Flagge“: Die Wahlwerbun­g ist oberflächl­ich und simpel.

Newspapers in German

Newspapers from Austria