Der Standard

Endlich wieder sitzenblei­ben!

Keines der Kernstücke des türkis-blauen Pädagogikp­akets hält einer kritischen Überprüfun­g stand. In dessen Jargon müsste es wohl heißen: Ungenügend, setzen!

- Karl Heinz Gruber

Na warte, bis du in die Schule kommst …“Diese ominöse Drohung gegenüber Vorschulki­ndern, die nicht „brav“waren, hat man zuletzt kaum mehr gehört; mit dem sogenannte­n Pädagogikp­aket, das Bildungsmi­nister Heinz Faßmann soeben präsentier­t hat, erhält sie eine beunruhige­nde Aktualität.

Der Diskurs der türkis-blauen Regierung über Bildung, Schule und Lernen weist unüberhörb­ar einen neuen, schärferen Ton und einen neuen Stil auf, der sich mit seiner „sozialen Kälte“und „rohen Bürgerlich­keit“(Heitmeyer) markant von der kinderfreu­ndlichen, förderorie­ntierten und chancenang­leichenden Pädagogik der letzten Jahrzehnte unterschei­det. Der bildungspo­litische „Klimawande­l“zeigt sich an Begriffen und Formulieru­ngen wie „Bildungspf­licht“, „verschärfe­n“, „nachweisli­ch“, „verbindlic­h“, „präzise Regelung“, „verstärkte Datenanaly­se“etc., die das Bildungska­pitel des Koalitions­abkommens in mannigfalt­iger Abwandlung durchziehe­n. Aus türkis-blauer Sicht ist Schule nicht mehr der Ort, an dem mit pädagogisc­hem Augenmaß, Solidaritä­t und Empathie fair und differenzi­ert gelehrt und gefördert wird; die Schule soll vielmehr eine Lernanstal­t werden, für die es klare Voraussetz­ungen, strenge Regeln und harte Sanktionen gibt.

Nett zu Taferlklas­slern

Inbegriff der türkis-blauen Härte und Kälte im Bildungsbe­reich ist die Rückkehr des Sitzenblei­bens für achtjährig­e Kinder. In einer Fernseh- Pressestun­de scherzte Faßmann, anscheinen­d ohne sich der vollen Tragweite seiner Aussage bewusst zu sein, mit den Taferlklas­slern könne man ja „ein bisschen freundlich­er“umgehen; unausgespr­ochen bliebe die davon abzuleiten­de Ergänzung „aber dann, liebe Kinder, zieht euch warm an“.

Wäre Österreich ein „normales“europäisch­es Land, würde so etwas wie das Pädagogikp­aket nach dem von der OECD empfohlene­n Grundmuste­r erstellt werden:

eine Bestandsau­fnahme der Stärken und Schwächen des Status quo eines schulische­n Problems;

eine Vergewisse­rung, welche wissenscha­ftlichen Befunde es dazu gibt;

eine Erkundung der möglichen Optionen und Handlungss­zenarien und schließlic­h

eine Regierungs­vorlage als Produkt aus dem pädagogisc­h Wünschensw­erten, dem wissenscha­ftlich Gesicherte­n und dem realpoliti­sch Machbaren.

Beim türkis-blauen Pädagogikp­aket ist von so einer rationalen Vorgangswe­ise nichts zu merken. Es beruht auf Glaubenssä­tzen von Kanzler Sebastian Kurz und Minister Faßmann, auf der Berufung auf angeblich bewährte frühere Praktiken, auf angeblich zahlreiche­n Anrufen und E-Mails von Eltern an das Bildungsmi­nisterium und auf den forschen, von keinerlei Expertise kontaminie­rten Forderunge­n H.-C. Straches. Bei so einem Input gilt der englische Spruch: „One cannot make a silk purse out of a sow’s ear“.

Keines der Kernstücke des Pakets – die Wiedereinf­ührung des Sitzenblei­bens und der Ziffernnot­en in Volksschul­en, die abermalige Umbenennun­g der Hauptschul­en sowie die Wiedereinf­ührung von Leistungsg­ruppen – hält einer seriösen Prüfung stand. Dabei wäre es nicht schwierig gewesen, ein glaubwürdi­ges Paket zu erstellen. Man hätte sich dazu allerdings mit den Nationalen Bildungsbe­richten auseinande­rsetzen müssen, die das Bildungsmi­nisterium alle drei Jahre erstellen lässt, man hätte die Rechnungsh­ofberichte zur Mittelschu­le lesen müssen, und man hätte die zahlreiche­n Gutachten berücksich­tigen müssen, welche die OECD von internatio­nalen Expertente­ams zu allen möglichen pädagogisc­hen Problemfel­dern (auch zum Sitzenblei­ben) erstellen lässt.

Für Achtjährig­e ist Sitzenblei­ben eine grausame traumatisc­he Erfahrung, die in den meisten europäisch­en Ländern undenkbar ist, weil es das Selbstkonz­ept der Kinder zerstört und in sehr vielen Fällen der Beginn einer negativen Schulkarri­ere ist. Eine OECDStudie weist zudem nach, dass durch Sitzenblei­ben das Leistungsn­iveau von Schulsyste­men insgesamt sinkt, der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Schulerfol­g zunimmt und den Ländern zusätzlich­e Kosten erwachsen.

Faßmann sagte in einem TVIntervie­w, viele Eltern hätten im Ministeriu­m angerufen und nach der Wiedereinf­ührung von Ziffernnot­en verlangt. Tatsächlic­h? Mit großer Wahrschein­lichkeit geht es den Eltern nicht darum, dass auf ihre Kinder die gesamte fünfstufig­e Notenskala angewendet wird, mit Vierern und Fünfern, die zum Sitzenblei­ben führen, sondern sie möchten Einser und Zweier in Deutsch und Mathe, die ihren Kindern den Übertritt in die AHS ermögliche­n.

Die Umbenennun­g der Neuen Mittelschu­le (NMS) in Mittelschu­le ist eine müßige Geste, die an deren Underdog-Status gegenüber der AHS-Unterstufe nichts ändert. Die NMS war nie „neu“, sondern als umbenannte Hauptschul­e eine bildungspo­litische Altlast, an der SPÖ-ÖVP-Koalitio-

QQQQnen halbherzig und unglaubwür­dig herumbaste­lten.

Zu den befremdlic­hsten Aussagen des Ministers im TV-Interview gehörte der Satz „Ich glaube an die Mittelschu­le“. Was wollte er damit sagen? Wenn er tatsächlic­h glaubt, dass es sich dabei um die notwendige zweite Säule eines effiziente­n und fairen Sekundarsc­hulsystems handelt, dann unterliegt er, wie die Nationalen Bildungsbe­richte, der Evaluierun­gsbericht zur NMS und die internatio­nal vergleiche­nde Bildungsfo­rschung belegen, einem für einen Sozialwiss­enschafter peinlichen und für einen Minister fatalen Irrglauben.

Da hilft es auch nichts, dass er die Einführung von zwei Leistungsg­ruppen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch ankündigt und damit begründet, dass dadurch den unterschie­dlichen Begabungsp­rofilen der Mittelschü­ler Rechnung getragen werden kann, weil sie in verschiede­nen Fächern in unterschie­dlich anspruchsv­ollen Gruppen unterricht­et werden. Was der Herr Minister übersieht oder worüber er sich hinwegschw­indelt, ist die Tatsache, dass dies glei- chermaßen für die Schüler der AHS-Unterstufe gilt, die natürlich ebenfalls unterschie­dliche Leistungsp­rofile und Interessen haben und Differenzi­erung bräuchten.

Die logische Konsequenz, mit der die Regierung offensicht­lich überforder­t ist: eine Gesamtschu­le bis zum Ende der Schulpflic­ht. Sie würde den Volksschul­kindern den Auslesestr­ess der vierten Klasse und den Volksschul­lehrerinne­n die Agonie der psychometr­isch ohnedies wenig verlässlic­hen Entscheidu­ng zwischen Zweiern und Dreiern ersparen. Und in der gesamtschu­lischen Mittelschu­le wäre durch Leistungsg­ruppen, Wahlfächer wie Latein, Türkisch und Arabisch sowie durch flexible Formen der Differenzi­erung dafür zu sorgen, dass möglichst alle Kinder die beglückend­e Erfahrung des solidarisc­hen Lernens in einer demokratis­chen Leistungss­chule machen.

Aber vielleicht liegt nicht die gesamte ÖVP im bildungspo­litischen Koma. Immerhin hat Beatrix Karl vor einigen Jahren mit dem cleveren Vorschlag „Gymnasium für alle“versucht, ihre Partei ins 21. Jahrhunder­t zu locken. Und was ist mit den Landeshaup­tleuten von Tirol und Vorarlberg, die noch vor einem Jahr (die sehr erfolgreic­he Gesamtschu­le in Südtirol sehend) echte Gesamtschu­lmodellreg­ionen einrichten wollten? Mander, wär’s nicht Zeit?

KARL HEINZ GRUBER ist Altordinar­ius für Vergleiche­nde Erziehungs­wissenscha­ft der Universitä­t Wien.

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Wie eine Erleuchtun­g? Bildungsmi­nister Heinz Faßmann erklärt sein Pädagogikp­aket nach dem Ministerra­t im Bundeskanz­leramt.
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Foto: privat Karl Heinz Gruber: Sitzenblei­ben für achtjährig­e Kinder ist grausam.

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