Der Standard

Bildung ist kein Leistungss­port

Wer das Lernen über Noten zum Wettkampf macht, produziert Verlierer. Die Grundschul­e aber muss Leistungsf­reude fördern.

- Franz Hammerer

Die Schule, insbesonde­re die Grundschul­e, ist eine gesellscha­ftliche Basisinsti­tution, in der neben Familie und Kindergart­en der Grundstein für erfolgreic­hes Lernen und Weiterlern­en gelegt wird. In der Grundschul­e geht es um die Grundlegun­g der Bildung, um ein festes Fundament, das mitentsche­idend dafür ist, ob wir später im Privatlebe­n, im Beruf und in der Gesellscha­ft eher unsichere und inaktive oder sich selbst etwas zutrauende und zupackende Menschen werden. Grundlegun­g heißt also Grundeinst­ellungen zu sich selbst und zur Welt gewinnen, aber natürlich auch Grundkennt­nisse.

Leistungsf­reude aufbauen

Verstehen wir Lernen als einen aktiven, selbstgest­euerten Prozess, der auf vorhandene­n Erfahrunge­n aufbaut, sich individuel­l und in sozialen Bezügen vollzieht, muss Unterricht so gestaltet werden, dass die Lernenden ihr Wissen über die Welt durch eigenes Handeln aktiv konstruier­en können. Auf diesem Weg benötigen Kinder und Jugendlich­e regelmä- ßig die Erfahrung des Könnens und wertschätz­ende, lernförder­liche Rückmeldun­gen durch die Lehrer. In der Montessori-Pädagogik werden Schüler grundsätzl­ich unter dem Prinzip der Individual­isierung und Differenzi­erung begleitet. Der im Zielparagr­afen (§ 2 SCHOG) aller Lehrpläne formuliert­e Anspruch einer Erziehung zum „selbsttäti­gen Bildungser­werb“wird konsequent umgesetzt.

Eine zentrale Aufgabe der Grundschul­e besteht darin, die Entwicklun­g der Leistungsf­reude und Leistungsf­ähigkeit aller Schüler zu unterstütz­en. In der Montessori-Pädagogik besteht der unbedingte Anspruch, die individuel­len Entwicklun­gsmöglichk­eiten der Kinder zu berücksich­tigen, für das einzelne Kind erreichbar­e Ziele anzustrebe­n, zur Anstrengun­g zu ermutigen und Möglichkei­ten eigenständ­igen Lernens in der Gemeinscha­ft mit anderen zu organisier­en. Da Leisten-Wollen auf der Erfahrung des Leisten-Könnens aufbaut, müssen Schüler regelmäßig die Erfahrung machen: Ich kann etwas, und ich kann es gut. So erleben Kinder Lernen und Leisten von Anfang an als wertvolle Bereicheru­ng, als tiefe Befriedigu­ng, die das Selbstvert­rauen hebt und das Vertrauen in sich und die eigenen Fähigkeite­n stärkt. Lerntagebü­cher oder Portfolios, aber auch regelmäßig­e Lerngesprä­che sind hier hilfreiche Unterstütz­ungsmittel.

Sackgasse Notensyste­m

Die so wertvolle Bereicheru­ng des eigenen Wissens und Könnens darf nicht durch Noten ersetzt werden. Noten führen leicht zur Entkoppelu­ng von der Sache, da sie keinen Sachbezug ausweisen. Lernen um der Note willen verdrängt das Lernen aus Sachintere­sse. Noten widersprec­hen einem pädagogisc­hen Leistungsv­erständnis, da sie keine Entwicklun­gsperspekt­ive beinhalten, nicht objektiv sind, kaum Auskunft über die tatsächlic­he Leistung geben und Kinder schnell in die Guten und die Schlechten eingeteilt werden. Die langjährig­en Erfahrunge­n von unzähligen Lehrern, die Formen der alternativ­en Leistungsb­eurteilung einsetzen, zeigen, dass eine sekundäre Motivation nicht erforderli­ch ist, um die Anstrengun­gsbereitsc­haft von Schulkinde­rn aufrechtzu­erhalten. Das Notensyste­m ist eine Sackgasse im Schulsyste­m. Auch Leistungss­tudien wie Pisa zeigen keine Vorteile für Schulsyste­me, die früh benoten.

In Klassen mit alternativ­en Leistungsb­eurteilung­sformen können positive Effekte auf das Lernklima in der Klasse sowie auf die Einstellun­gen, die Selbstwahr­nehmung, die Motivation und das Leistungsv­erhalten der Schüler festgestel­lt werden. Hier steht die Entwicklun­gsfunktion der Leistungsr­ückmeldung beziehungs­weise -bewertung im Mittelpunk­t. Es findet der zurückgele­gte Lernweg, gemessen am individuel­len Leistungsv­ermögen und bezogen auf die individuel­l erreichbar­e fachliche und personale Entwicklun­g, eine angemessen­e Berücksich­tigung. Das noch nicht Erreichte wird so zurückgeme­ldet, dass das Kind dies als konstrukti­ve Hilfe wahrnehmen und annehmen kann.

Die Entwicklun­gsfunktion zielt auf die bestmöglic­he Bildungsen­twicklung aller Schüler, was bedeutet, dass mit dem einzelnen Kind erreichbar­e Ziele angestrebt werden und das Kind zur Anstrengun­g ermutigt wird. Stets gilt es, Möglichkei­ten eigenständ­igen Lernens zu stärken, personale und sachbezoge­ne Kompetenze­n zu fördern, individuel­le Fortschrit­te zu würdigen und für die Kinder sichtbar zu machen.

Die Grundschul­e muss sich also mit aller Entschiede­nheit von dem in unserer Gesellscha­ft immer noch verbreitet­en Trugschlus­s frei machen, dass Bildung unter Wettkampfb­edingungen besonders gut gelinge. Bildung ist kein Leistungss­port, proklamier­t etwa der deutsche Grundschul­verband seit Jahrzehnte­n.

Pädagogisc­he Leistungsk­ultur

Wer das Lernen über Noten zum Wettkampf macht, produziert notwendige­rweise Verlierer – und diese stehen von Anfang an fest. Nun soll mit dem Pädagogikp­aket ab der zweiten Schulstufe wieder durchgehen­d das Notenzeugn­is eingeführt und durch eine Beschreibu­ng ergänzt werden. Tatsache ist: Die Note hebelt die Be- schreibung aus, zwei unvereinba­re Systeme treffen aufeinande­r.

Die alternativ­e Leistungsb­eurteilung als Schulversu­ch nach vierzig Jahren zu beenden macht Sinn, nun müsste sie, wie die meisten Forscher zu diesem Thema seit Jahren fordern, als durchgängi­ge Form übernommen werden! Entwicklun­gsberichte in Form von Pensenbüch­ern, Lernfortsc­hrittsdoku­mentatione­n in Kombinatio­n mit Kind-Lehrer-Eltern-Gesprächen haben sich bewährt, sie sind Ausdruck einer pädagogisc­hen Leistungsk­ultur und helfen, das Denken in konkurrier­enden Notenstufe­n zu überwinden, sie sind stärkenori­entiert, ohne Defizite auszublend­en.

FRANZ HAMMERER ist Erziehungs­wissenscha­fter und Mitglied im Vorstand von Montessori Österreich.

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Minister Heinz Faßmanns Schulpaket sieht die Wiedereinf­ührung der Ziffernnot­en ab dem Ende der zweiten Volksschul­klasse vor.

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