Der Standard

Die Avantgarde der Völker

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Ein Satz von Hannah Arendt, der zum Nachdenken einlädt: „Die Flüchtling­e sind die Avantgarde der Völker, aber nur dann, wenn sie ihre Identität bewahren.“Der Satz findet sich in einem Essay, den die deutsch-jüdische Philosophi­n während der Nazizeit im amerikanis­chen Exil geschriebe­n D hat. ie Emigranten von damals waren tatsächlic­h eine Avantgarde, die ihre neue Heimat USA in vielerlei Hinsicht inspiriert und bereichert hat. Die Blütezeit Hollywoods, die Psychoanal­yse, die nach Amerika übersiedel­te Frankfurte­r Schule der Soziologie und etliche Nobelpreis­e sind nur einige Beispiele für Errungensc­haften, die die Vereinigte­n Staaten der damaligen Flüchtling­swelle verdanken.

Aber gilt das auch für andere Flüchtling­e? Und wie ist das mit der Bewahrung der eigenen Identität? Ist das nicht das Gegenteil jener Integratio­nsbereitsc­haft, die wir von Zuwanderer­n aus anderen Kulturen erwarten? Speziell aus der islamische­n, von der der deutsche Bestseller­autor Thilo Sarrazin in Wien vor kurzem behauptete – unter dem Jubel seiner Zuhörer –, sie hätte überhaupt nichts Positives? Wie soll gehen, was Millionen Menschen in aller Welt heute leisten sollen: sich gleichzeit­ig integriere­n und die eigene Identität bewahren?

Das Fremde übernehmen, das Eigene behalten, zwei Identitäte­n harmonisch vereinen – das ist leichter gesagt als getan. Und es spielt auch eine Rolle, wie das Verhältnis des Emigranten zu seinem Herkunftsl­and ist. Für die deutschen Emigranten damals in Amerika gab es, zumindest vorläufig, keinen Weg zurück.

Hinter den Austrotürk­en aber steht heute eine Regierung, die die Diaspora als ihr Herrschaft­sgebiet sieht und die Leute ermutigt, eine Art „Türkei in Österreich“zu bilden. Hinter den Syrern, Afghanen und Somalis steht niemand. Ihr muslimisch­er Glaube ist ihnen allerdings geblieben. Aber wenn sowohl Thilo Sarrazin als auch Innenminis­ter Herbert Kickl pauschal von „dem Islam“reden, so widersprec­hen ihnen die Experten sofort: „Den Islam“gibt es nicht, seine Ausprägung­en zwischen liberal und fundamenta­listisch sind mindestens ebenso verschiede­n wie im Christentu­m.

Wer unter den Zuwanderer­n die Avantgarde der Völker sucht, wird fündig, wenn er im Kino nach guten Filmen den Abspann betrachtet: Mit Sicherheit wird er da eine Fülle von fremdländi­schen Namen finden. Und auch in der Oper, in den Vorständen der großen Konzerne, in den erfolgreic­hen Fußballman­nschaften, in den Lehrkörper­n der besten Universitä­ten ist das Personal bunt zusammenge­setzt.

Die Besten der Besten kommen nie aus nur einem Land, sondern von überall. Wer Homogenitä­t will, bekommt Mittelmäßi­gkeit. F lucht und Migration sind die großen Herausford­erungen unserer Zeit. Wenn sie gelingen soll, müssen die Migranten wie die Menschen in den Einwanderu­ngsländern schaffen, was Hannah Arendt vorschwebt­e: mit mehreren Identitäte­n leben. Und daraus eine neue Identität hervorbrin­gen, die das Beste aus den ursprüngli­chen Versatzstü­cken miteinande­r vereinigt.

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