Der Standard

Lob der Unterschei­dung

Vielerorts wird heute auf das Treffen von Unterschei­dungen verzichtet – sei es aus Denkfaulhe­it oder politische­r Korrekthei­t

- Paul Reinbacher

Generell gibt es heute in den Sozialwiss­enschaften breite Übereinsti­mmung dahingehen­d, dass sich die gesellscha­ftliche Entwicklun­g bzw. die soziokultu­relle Evolution insgesamt als ein Prozess der zunehmende­n Differenzi­erung vollzieht. Mit hoher Wahrschein­lichkeit lässt sich dies sogar ganz allgemein für soziale Systeme sagen.

Diese zunehmende Differenzi­erung bringt für Systeme Vorteile als auch Nachteile, wie zum Beispiel höhere Leistungsf­ähigkeit durch Spezialisi­erung bei gleichzeit­ig neuen Anforderun­gen an die interne Koordinati­on. Vor allem aber gehen damit neue Herausford­erungen für soziale Systeme ihr Verhältnis zur Umwelt betreffend einher: Ihre „Viabilität“, wie Gregory Bateson die Überlebens­fähigkeit in einer ökologisch­en Nische bezeichnet hat, basiert jetzt – und das ist eine der zentralen Einsichten aus der Kybernetik – auf ausreichen­der „requisite variety“(W. R. Ashby), also auf angemessen­er, durch interne Differenzi­erung erzeugter Komplexitä­t, als Antwort auf die externe Komplexitä­t, die mit zunehmende­r Differenzi­erung der Umwelt einhergeht.

Demgegenüb­er scheint es heute in Mode zu sein – sei es aus Angst oder mit antidiskri­minierende­r Absicht –, möglichst ohne Differenzi­erungen, also ohne Unterschei­dungen, das Auslangen zu finden bzw. diese zugunsten eines wenig differenzi­erten Moralismus zu reduzieren. Man denke an Diskussion­en über Migration, Bildung oder Geschlecht­erverhältn­isse, in denen es nicht selten als unerwünsch­t bzw. unzulässig gilt, unterschie­dliche Motive und Gründe des Handelns in Rechnung zu stellen – wenngleich dies nur begrenzt funktionie­rt und in der Realität nolens volens die eine oder andere Differenz doch (noch) akzeptiert bzw. der eine oder andere Unterschie­d doch (noch) gemacht werden muss.

Nation und Nationalst­aat

Man denke auch an Debatten über das Verhältnis von Nationalst­aat und EU, wo gegen nationale Grenzen in Europa polemisier­t, aber gleichzeit­ig das europäisch­e Konstrukt im globalen Kontext idealisier­t wird und wo Staat, Nation und Nationalst­aat unterschie­dslos verwendet werden.

Den aktuellen Diskurs dominiert dabei über weite Strecken ein nachgerade trivialer Moralis- mus auf Basis der Differenz von gut und schlecht. Man denke dabei nur an angeblich gute und schlechte Grenzziehu­ngen (Europa und Nationalst­aat) oder – allgemeine­r – an angeblich gute und schlechte Unterschei­dungen (Zivilgesel­lschaft/Rechtspopu­listen und Neoliberal­e/Gutmensche­n). Außerdem geht all dies einher mit der im Hintergrun­d stets mitlaufend­en Hoffnung, man könne irgendwann ganz ohne Grenzen und Differenze­n auskommen. Damit ist jedoch Enttäuschu­ng geradezu programmie­rt: Einerseits aus schlicht logischen Gründen, wie der Mathematik­er George SpencerBro­wn in seinem Buch Gesetze der Form gezeigt hat, bzw. weil es, so der Soziologe Niklas Luhmann in einem Interview zu diesem Thema, den unterschei­dungslosen Zustand nur im Paradies (und auch dort nur bis zum Genuss der verbotenen Frucht!) geben kann. Anderersei­ts droht Enttäuschu­ng, weil die eingangs geschilder­te, unaufhalts­am fortschrei­tende gesellscha­ftliche Entwicklun­g die Vermutung nahelegt, dass in Zukunft eher mehr statt weniger Differenzi­erung vonnöten ist.

So sind Verzicht auf Differenzi­erung und Vorhaben zur Entdiffere­nzierung evolutionä­r gesehen regressive Phänomene. Sie laufen der soziokultu­rellen Entwicklun­g entgegen, erfordern viel Energie und provoziere­n die Frage, zu welchen neuen Formen der Differenzi­erung es unter der Oberfläche offizielle­r Nicht- und Entdiffere­nzierung kommt – gut zu beobachten im Schulund Hochschuls­ystem, wo sich nach Abschaffun­g der Leistungsg­ruppen in der Neuen Mittelschu­le nun nicht explizit benannte Statusunte­rscheidung­en stabilisie­ren, oder wo sich nach Angleichun­g akademisch­er Abschlüsse von Unis und FHs im Zuge von „Bologna“implizite Unterschie­de hinsichtli­ch Prestige, Image etc. etablieren.

Dies zeigt, dass gutgemeint­e, gegen etablierte Differenzi­erungsmech­anismen gerichtete antidiskri­minierende Strategien wie auch zum Beispiel die unterschie­dslose Legitimier­ung von Migrations­motiven dann nicht selten zu noch schwerer sichtba- ren, noch schwerer in den Griff zu bekommende­n Differenzi­erungen führen – wie beispielsw­eise von Mitleid und Mobilisier­ung abhängige Erfolgscha­ncen außerhalb des rechtliche­n Rahmens.

Wie es aussieht, sind wir seit der Vertreibun­g aus dem Paradies auf Unterschei­dungen und deren Informatio­nswert angewiesen. Ein „Lob der Unterschei­dung“sollte an dieser Stelle jedoch nicht kurzerhand mit einem Lob der hierarchis­chen Unterschei­dung gleichgese­tzt werden. Immerhin liegt in der reinen Logik der Unterschei­dung und in der damit entstehend­en Asymmetrie zwar eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichen­de Bedingung für Hierarchie, mithin keine Begründung für die „Gleichursp­rünglichke­it“von Differenz und Hierarchie. Wenn daher eine Differenz aus Sicht der sie umgebenden sozialen Strukturen mit einer hierarchis­chen Bewertung einhergeht, so ist der Tadel wohl vorrangig an die gesellscha­ftliche Hierarchie, der diese Bewertung entspringt, zu adressiere­n, und nicht an die Unterschei­dung selbst.

PAUL REINBACHER ist Sozial- und Wirtschaft­swissensch­after an der Pädagogisc­hen Hochschule Oberösterr­eich.

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Foto: privat Reinbacher: Im Diskurs dominiert trivialer Moralismus.

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