„Sehr viele Studierende haben kein Interesse“
Sozialwissenschaftliche Fächer an heimischen Unis haben ein Problem, sagt ein Lehrender, der anonym bleiben will: Zu viele Studierende sind nicht qualifiziert und behindern die anderen.
Unter unseren Studierenden sind tolle und motivierte Leute, aber auch sehr viele andere: Oft wird ein Fach gewählt, weil es als leicht gilt oder weil die Aufnahmeprüfung für eine Fachhochschule nicht geschafft wurde. Das ist ein immenses Problem: So viele Ressourcen – Zeit und Aufmerksamkeit – gehen verloren, und das zulasten jener, die ein wirkliches Interesse am Studium haben und auch leistungswillig sind.
Leistungswillig meine ich in einem weiteren Sinne – es geht nicht nur darum, möglichst schnell zu studieren und gute Noten zu kriegen. Es geht um die Bereitschaft, mitzudenken und mitzuarbeiten. Und das wird stark gebremst, weil wir sehr, sehr viele Studierende mitnehmen müssen, die kein offensichtliches Interesse an den Inhalten des Studiums haben. Das ist auch ein ethisches Problem, weil es kein guter Umgang mit den öffentlichen Ressourcen ist – ganz abgesehen da- von, was es mit den anderen Studierenden und mit den Lehrenden macht. Es bringt Lehrende dazu, viel weniger vorauszusetzen und zuzumuten und mit den Anforderungen auch das eigene Engagement runterzuschrauben.
Wenn die Hälfte der Teilnehmer einer Lehrveranstaltung offen Desinteresse demonstriert oder aus sprachlichen Gründen dem Unterricht einfach nicht folgen kann, hat niemand etwas davon. Es gibt Studierende, die sich am Ende ihres Masterstudiums befinden und keinen korrekten deutschen Satz schreiben können. Das Verständnis von komplexen Texten kann da natürlich nicht vorausgesetzt werden. Das kann man den einzelnen Menschen nicht zum Vorwurf machen, aber sie dürften unter diesen Umständen gar nicht zum deutschsprachigen Studium zugelassen werden. Dass es Leute gibt, die trotzdem irgend- wie so weit kommen und am Studienende scheitern, weil sie nicht gut genug Deutsch können, ist sehr problematisch.
Die Ansicht, manche sozialwissenschaftlichen Studiengänge in Österreich seien einfach, ist weit verbreitet. Einerseits kommt das wohl daher, dass die Zugangshürden nicht so hoch sind: Für einige Studiengänge muss man nicht sonderlich mathematisch begabt sein und braucht auch kein Latinum. Ich glaube, dass dieser vergleichsweise offene Zugang eine Negativselektion mit sich bringt. Das zieht Leute an, die eigentlich etwas anderes machen wollten, die sich nicht wirklich dafür interessieren und nur für den Abschluss studieren.
Steigende Frustration
Dass man in den Sozialwissenschaften aber ein sehr hohes Level analytischen und systematischen Denkens – und für einige Fächer auch Mathematik – braucht, wird oft nicht mitbedacht. Das ist für Studierende dann auch sehr frustrierend, wenn sie merken, dass sie die Fähigkeiten, die es braucht, um das Studium gut zu absolvieren, eigentlich doch nicht haben. Natürlich verlieren viele auch die Lust daran. Und doch machen viele weiter, denn sie haben schon Zeit in das Studium gesteckt – da gibt es viele perverse Anreize.
Manche sind sehr frustriert, wenn sie draufkommen, dass das Fach nicht so leicht ist, wie es immer heißt. Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen, die sagen, in ihren Lehrveranstaltungen gibt ein großer Prozentsatz der Teilnehmer am Ende keine Arbeit ab, zum Teil die Hälfte: Die Leute sitzen das ganze Semester im Seminar, melden sich kein einziges Mal zu Wort und schließen dann nicht ab. Die kommen am Ende drauf, dass sie keine Seminararbeit schreiben können, oder es ist ihnen zu mühsam. Wenn man diesen hohen Prozentsatz nicht hätte, könnte man mit den interes- sierten Studierenden ganz anders arbeiten.
Das Problem ist natürlich auch, dass viele unserer guten Absolventinnen und Absolventen unter dem schlechten Ruf des Studiums leiden. Die Situation ist für alle Beteiligten unfair: Den einen wird nicht oder erst viel zu spät klar, dass dieses Studium nichts für sie ist. Die anderen können nie auf dem Niveau arbeiten, das sie eigentlich erreichen könnten und auch verdienen. Die Situation ist im Moment wirklich unfair und unethisch – in jeder Hinsicht.
In gewisser Weise haben wir weder Fisch noch Fleisch. Wenn wir wollen, dass unsere Universitäten einem öffentlichen Bildungsauftrag nachkommen, brauchen wir eine völlig andere Ressourcenausstattung. Oder wir sagen: Den öffentlichen Bildungsauftrag nehmen andere Institutionen wahr, die Unis konzentrieren sich darauf, jene zu unterstützen, die eine wissenschaftliche Karriere anstreben oder eine wissenschaftliche Ausbildung möchten.
Gerechte Filter
Dann bräuchten wir eine Form von Zugangs beschränkung. Studien gebühren könnten eine überlegens werte Schranke sein, wenn sie gerecht gestaltet werden: Sie dürften nicht wesentlich sozial und ökonomisch filtern. Das kann man erreichen, indem man sie für Leute erlässt, die sich Gebühren nicht leisten können, und gezielteFörd er mechanismen für Menschen einrichtet, die ausbil dungsfernen Kontexten kommen. Von der jetzigen Situation profitiert in erster Linie der Mittelstand.
Wo es hohe Studiengebühren gibt, sind Studierende l eis tungswilliger, berichten Kolleginnen und Kollegen, die im Ausland tätig sind oder waren. Das ist zwar für Lehrende vielleicht angenehmer: Wenn der Zugang sehr stark selektiv ist, ziehen die meisten Leute das Studium durch, wenn sie einmal drin sind.
Das ist im Alltag vieler Lehrender und Studierender zwar positiv, hat aber Schattenseiten: Natürlich haben hohe Gebühren die Wirkung einer sozialökonomischen Filterung. Die Leistungsbereitschaft basiert oft au feinem starken Druck, der sich auf die Psyche und Gesundheit auswirkt. Im Studium geht zudem das Unorthodoxe, dasni ch tunmittelbar nutzen orientierte Denken verloren.
Das hat aber auch hierzulande immer weniger Platz. Paradoxerweise gibt es gerade unter Sozialwissen schafts studierenden viele, die kaum Interesse an sozialen und politischen Phänomenen haben – nicht, weil die Menschen ignoranter oder unpolitischer werden, sondern weil die Zwänge stärker geworden sind. Studierende müssen immer häufiger nebenbei arbeiten und sind angehalten, in der Mindestzeit abzuschließen.
DER GESPRÄCHSPARTNER möchte seinen Namen nicht nennen. Er ist Lehrender eines sozialwissenschaftlichen Studiengangs an einer österreichischen Uni.