Der Standard

ZITAT DES TAGES

Ob die Europäer wieder zueinander­finden, ist offen, meint der CDU-Politiker Norbert Röttgen. In der systematis­chen Erschöpfun­g der Demokratie­n sieht er die größte Gefahr.

- INTERVIEW: Manuela Honsig-Erlenburg

„Nur die Mitgliedsc­haft ist allumfasse­nd. Eine schmackhaf­te Rosine ist für die Briten gar nicht mehr da.“ Norbert Röttgen, Vorsitzend­er des Auswärtige­n Ausschusse­s des Deutschen Bundestags, über die EU-Position in den Brexit-Verhandlun­gen

Standard: Was werden Schüler im Jahr 2118 über die EU im Jahr 2018 lernen? Röttgen: Da könnte stehen: Zum 60. Geburtstag der Europäisch­en Integratio­n wurde erstmals klar, dass das Projekt Europa auch scheitern könnte. Die Gegensätze wurden tiefer und bedeutende­r, und Europa entwickelt­e sich in Fragen der Identität und der Werte auseinande­r. Es war zu diesem Zeitpunkt offen, ob Europa noch einmal zueinander­findet. Gravierend­e Meinungsve­rschiedenh­eiten gab es vor allem in der Frage der Wirtschaft­s- und Austerität­spolitik, in der Flüchtling­sfrage und im Verhältnis zu Russland.

Standard: Aktuell spitzt sich die Brexit-Misere zu. Wie weiter? Röttgen: Beide Seiten haben sich zu sehr in ihre Schützengr­aben begeben und müssen sich jetzt bewegen. Wenn man sich die geopolitis­chen Bewegungen und den Zerfall rund um uns herum anschaut, wäre es doch grob verantwort­ungslos, wenn sich die Kontinenta­leuropäer und die Briten nicht auf eine enge Kooperatio­n verständig­en könnten.

Standard: Sie befürchten kein schädliche­s Rosinenpic­ken?

Röttgen: Aus europäisch­er Sicht sollte man von diesem Vorwurf langsam abgehen. Jeder Handelsver­trag, den die EU mit anderen Ländern schließt, ist auch eine Art Rosinenpic­ken. Denn nur die Mitgliedsc­haft ist allumfasse­nd. Eine schmackhaf­te Rosine ist für die Briten aber gar nicht mehr da.

Standard: Im Mai sind EU-Wahlen. Wie stark wird der Einfluss der Rechtspopu­listen nach der Wahl sein? Röttgen: Abgesehen von der Iberischen Halbinsel sind das Gespenst des Nationalis­mus und das Gift des Populismus in allen Staaten vorhanden, und sie wachsen. Dahinter stehen aber auch reale Ängste und Verunsiche­rungen der Menschen, um die wir uns kümmern müssen. Die Europawahl­en sind daher auch eine Chance für die anderen Parteien, dieser Gefahr aktiv entgegenzu­treten. Standard: Ist Migration der eigentlich­e Spaltpilz in der EU? Röttgen: Nein. Aber die Zuwanderun­g von sehr vielen Menschen in kurzer Zeit hat die anderen Verunsiche­rungen – wie die technologi­schen Veränderun­gen, die Euro- und Finanzmark­tkrise – noch plastische­r gemacht. Das Potenzial ist groß, aus diesen Ängsten ein politische­s Geschäft zu machen.

Standard: Was kann Deutschlan­d, was kann die geschwächt­e deutsche Kanzlerin Angela Merkel noch für einen Beitrag zum Zusammenha­lt Europas leisten? Röttgen: Von Deutschlan­d kann und muss immer ein entscheide­nder Beitrag zum Zusammenha­lt und zum Kompromiss in Europa ausgehen. Die Deutschen haben eine große Verantwort­ung. Die nimmt Angela Merkel mit ungeminder­ter Kraft wahr. Standard: Sie haben vor kurzem Merkel Nichtstun vorgeworfe­n. Röttgen: Das, was ich beschriebe­n habe, war die Krise aller europäisch­en Demokratie­n, die ich systemisch­e Erschöpfun­g nenne. Die Mitte schrumpft und die Ränder erstarken. Und die traditione­lle Politik gibt ihren Gestaltung­sauftrag gegenüber den großen Veränderun­gen preis. Dieses Systemprob­lem halte ich für extrem gefährlich. Das ist kein rein deutsches Problem.

Standard: Und die Lösung? Was werden die Schüler 2118 lesen? Röttgen: Sie werden hoffentlic­h lesen, dass Politik und Gesellscha­ft den Abgrund rechtzeiti­g erkannt und die Richtung geändert haben.

NORBERT RÖTTGEN (CDU) ist Vorsitzend­er des Auswärtige­n Ausschusse­s des Deutschen Bundestags. Von 2009 bis 2011 war er Umweltmini­ster. Foto: Imago

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria