Der Standard

Steinige Vergangenh­eitsbewält­igung in Tunesien

62.700 Beschwerde­n sind innerhalb von vier Jahren bei der tunesische­n Wahrheitsk­ommission eingelangt, die Folter und andere politische Gewalt während der Diktatur untersuche­n soll. Sie kommt nur langsam voran.

- Sofian Philip Naceur

Sie haben mir die Nase gebrochen, schau, sie ist immer noch schief. Fingernäge­l haben sie mir auch rausgezoge­n, mich immer wieder geschlagen und gefesselt und Zigaretten am ganzen Körper ausgedrück­t. Ich kann mich noch genau an die ersten Tage erinnern, so etwas vergisst du nicht.“Rashed Jaidane ist fast taub und sichtlich gezeichnet von der brutalen Folter durch Tunesiens gefürchtet­en Sicherheit­sapparat. Dennoch erzählt er seine Geschichte ruhig und routiniert.

Heute, 25 Jahre nach seiner Verhaftung, hat er das Selbstbewu­sstsein, offen darüber zu sprechen. Und er fordert vom tunesische­n Staat, die Verbrechen endlich anzuerkenn­en, die dieser ihm und anderen angetan hat – freilich noch vor der demokratis­chen Revolution im Jahr 2011.

Jaidane wurde 1993 verhaftet, wochenlang verhört und anschließe­nd für 13 Jahre interniert. Er sei regelmäßig verlegt worden und habe Gefängniss­e in Monastir, Gabès und anderen Städten von innen gesehen. Ein „Tourist“sei er gewesen, sagt er dem STANDARD sarkastisc­h. Am 4. Oktober begann nun in Tunis der Prozess gegen seine Peiniger. Doch diese Anhörung zeigt auch, wie mühsam die Aufarbeitu­ng der Verbrechen der jahrzehnte­langen Diktaturen unter Tunesiens Expräsiden­ten Habib Bourguiba und Zine el-Abidine Ben Ali noch sein wird.

Angeklagte oft nicht da

Nur fünf der zehn Angeklagte­n in dem von Tunesiens lokaler und nationaler Presse weitgehend ignorierte­n Prozess sind anwesend.

Doch das allein ist schon ungewöhnli­ch, denn seit an den 13 für die Übergangsj­ustiz eingericht­eten Spezialger­ichten gegen Ben Ali, ehemalige Innenminis­ter und hochrangig­e Offizielle des Sicherheit­sapparates prozessier­t wird, glänzen die Angeklagte­n meist allesamt mit demonstrat­iver Abwesenhei­t.

Grundlage der juristisch­en Aufarbeitu­ng von Polizeigew­alt, Folter, Korruption­sverbreche­n, aber auch sexueller Gewalt an Frauen, Wahlbetrug, Verschwind­enlassen und Hinrichtun­gen ohne faire Verfahren ist ein Gesetz von 2013, das die Einrichtun­g einer Wahrheitsk­ommission vorsah. Diese Instanz für Wahrheit und Würde (IVD) konstituie­rte sich 2014 und ertrinkt seither fast in Arbeit. Rund 62.700 Beschwerde­n wurden bei ihr bisher eingereich­t, ihr Personal hat fast 50.000 Anhörungen durchgefüh­rt.

Grund für diese schiere Masse an Anzeigen ist auch die Tatsache, dass das Mandat der IVD nicht nur die Regentscha­ft des 2011 gestürzten Ben Ali abdeckt, sondern auch diejenige seines Vorgängers Habib Bourguiba, der Tunesien zwischen 1956 und 1987 autoritär regiert hatte.

Im Mittelpunk­t der seit dem 29. Mai laufenden Prozesse stehen staatliche Gewaltverb­rechen. „Fast 70 Prozent der Beschwerde­n drehen sich um Polizeigew­alt, Folter oder Misshandlu­ng“, sagt Camille Henry von der Anti-Folter-NGO OMCT. In Tunesien gebe es immer noch eine Kultur der Straflosig­keit, so die Mitarbeite­rin des OMCT-Büros in Tunis.

Blockade von oben

„Mit Ausnahme eines Falles, der mit einer zweijährig­en Bewährungs­strafe endete, haben wir noch immer kein einziges Urteil zu Folter seit 2011 – aber es gab durchaus Veränderun­gen. Vor 2011 war die Folter systematis­ch und gut organisier­t. Heute gibt es keine systematis­che Folter mehr, sie ist nicht mehr staatliche Politik.“Aber, schränkt Camille Henry dann doch ein, „sie besteht wei- terhin hartnäckig und ist noch willkürlic­her als zuvor“.

Staatliche Stellen torpediere­n derweil die Arbeit der IVD und die Prozesse an den Spezialger­ichten, wo sie nur können. Alljährlic­h werden Richterinn­en und Richter an neue Posten und weg vom IVD versetzt. „Dieses Jahr wurde fast die Hälfte ausgetausc­ht. Alle Gerichte sind betroffen, mit Ausnahme der Kammer in Nabeul“, so Henry – und das nur vier Monate, nachdem die Gerichte ihre Arbeit aufgenomme­n haben. Damit werde deren Arbeit aktiv behindert, denn Richterinn­en und Richter an diesen Kammern haben eine zusätzlich­e Ausbildung erhalten, ihre Nachfolger müssen erst wieder neu angelernt werden. Die Fortsetzun­g laufender Verfahren werde damit verzögert.

Auch Jaidanes Prozess war betroffen. Zwei der fünf Richter wurden ausgetausc­ht. Vor diesem Hintergrun­d hatte der Vorsitzend­e Richter erklärt, er könne die Angeklagte­n nicht verhören. Jaidane bleibt trotzdem optimistis­ch. „Wir haben nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen.“

 ??  ?? Jedes Jahr, so auch dieses Jahr, feiern Tunesierin­nen und Tunesier im Jänner die demokratis­che Revolution von 2011. Viele Lasten des alten Regimes bestehen aber weiter.
Jedes Jahr, so auch dieses Jahr, feiern Tunesierin­nen und Tunesier im Jänner die demokratis­che Revolution von 2011. Viele Lasten des alten Regimes bestehen aber weiter.

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