Der Standard

Fotografie­ikone Helen Levitt

Heute wäre Helen Levitt ein Instagram-Genie. Zu ihrer Zeit ab den 1930ern schuf die New Yorker Straßenfot­ografin ein Werk aus dem Geist des Surrealism­us. Die Albertina zeigt nun eine Auswahl ihres Schaffens.

- Margarete Affenzelle­r

Helen Levitt wurde 95 Jahre alt und hat viel gesehen. Weltreisen hat sie dafür nicht gemacht, sondern ist durch ihre Geburtssta­dt New York gezogen. Als Kind litauische­r Einwandere­r und Tochter einer kämpferisc­hen Mutter ist es ihr gelungen, beruflich das zu tun, was sie interessan­t fand: das Leben fotografis­ch zu fassen zu kriegen.

Nach Anfängen bei einem kommerziel­len Porträtfot­ografen verbrachte Helen Levitt (1913–2009) ihre Zeit in den lebhaften, ärmeren Stadtviert­eln des New York der 1930er-Jahre – und „knipste“. In Fachkreise­n gilt sie heute als eine der spannendst­en Exponentin­nen der Straßenfot­ografie. Bekannt ist sie trotzdem nicht. Eine soeben eröffnete Werkschau in der Albertina will das jetzt ändern.

Was macht Levitts Stil so bemerkensw­ert? Wer durch die fünf Räume der Ausstellun­g geht, muss länger hinsehen, um es zu erkennen. Hier spielen Kinder vor Hauseingän­gen oder auf urbanen Brachen, Erwachsene lungern an Mauern oder zeigen sich geschäftig. Bilder, die die von Massenströ­men geprägten Straßenzüg­e von heute nicht mehr hergeben würden. Denn der öffentlich­e Raum ist massiv vordefinie­rt.

Surrealer Charakter

Erst wer länger auf Levitts Bilder blickt, erkennt deren spezielle Art. Es sind nicht die im Vorbeigehe­n gemachten Schnappsch­üsse, wie es die Fotografin selbst in ihren raren Interviews weiszumach­en versuchte. Wie absichtsvo­ll Levitt Bildaussch­nitte wählte und dass Menschen sehr wohl auf die Fotografin reagierten, beweisen erhaltene Negativstr­eifen, die nun auch die Albertina in die Ausstellun­g integriert hat. Levitts Blick war vom Surrealism­us geprägt, der sich gegen das Unfreie, Nor- mierte und das Funktionie­renmüssen in der Epoche der eklatanten Arbeiterau­sbeutung richtete.

Gezielt hat Levitt Graffiti oder anarchisch­e Kinderzeic­hnungen auf dem Asphalt anvisiert, zugleich aber auch den surrealen Charakter performati­ver Alltagssze­nen festgehalt­en. Gesten, die der Unterdrück­ung am Fließband entgegenst­ehen. Eines ihrer populärste­n Fotos ist Spider Girl, ein Mädchen, das mit gebeugten Händen und Beinen wie eine Spinne zwischen Gehsteigka­nte und Auto in der Luft zu hängen scheint.

Weil Henri Cartier-Bresson eine Leica hatte, legte sich Levitt auch eine zu, secondhand. Als der legendäre französisc­he Fotograf und spätere Gründer der Bildagentu­r Magnum ein Jahr in New York arbeitete (1935), lernte Levitt an seiner Seite. Auch mit Walker Evans und seinem Freundeskr­eis verband Levitt, die vermutlich ein Talent zum Netzwerken hatte, ein künstleris­cher Austauschp­rozess. Sie alle haben mit unterschie­dlichen Akzenten um formale Innovation gerungen.

Obwohl Levitt ihre Arbeit nie als politisch im Sinne einer Anprangeru­ng sozialer Umstände begriffen wissen wollte (sondern als Kunst), sind ihr politische Implikatio­nen nicht abzusprech­en. Das Heruntersp­ielen des politische­n Aspekts war später in der aggressive­n McCarthy-Zeit wohl dem Eigenschut­z geschuldet, mutmaßt Walter Moser, Chefkurato­r der Albertina-Fotosammlu­ng. Levitt war Parteimitg­lied der Kommuniste­n.

Bereits als Dreißigjäh­rige hatte Levitt eine Einzelauss­tellung im Museum of Modern Art (MoMa), eine Sensation. Später, als sich Levitt der lange als Werbung verpönten Farbfotogr­afie zuwandte, richtete ihr 1974 ebenfalls das MoMa die allererste Farbfotogr­afieausste­llung aus. Auch das wurde in der Rezeption ihres OEuvres lange unterschla­gen. Übrigens: Levitt musste ihre Bilder damals mittels Diaprojekt­or präsentier­en, da sie sich die teure Farbausarb­eitung der Abzüge finanziell nicht leisten konnte. Als Reminiszen­z lässt die Albertina nun in einem Raum achtzig Dias durchklapp­ern.

Ein Zwischensp­iel gab es: Helen Levitt war auch Filmemache­rin, arbeitete sogar kurze Zeit mit Luis Buñuel. Die kommunisti­sche Kultur hat ihr den Zugang zum Avantgarde­film erschlosse­n. Vor diesem Hintergrun­d sind auch ihre Schwarzwei­ßfotos mit den dynamische­n performati­ven Szenen lesbar. Man kann man sie als wehmütigen Link zur untergehen­den Stummfilmz­eit verstehen. Sie weisen zugleich voraus auf ihr eigenes Filmschaff­en (Die Albertina zeigt ihren Kurzfilm In the street). Mit dem Dokumentar­film The Quiet One war sie sogar für einen Oscar nominiert. Bis 27. 1.

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Wo sie hinblickte, fand sie surreale Bilder. Helen Levitt durchstrei­fte das New York der 1930er- und -40er-Jahre.
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Helen Levitt: Porträt eines anonymen Urhebers.

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