Der Standard

Die asiatische Kunst des Totengeden­kens

Weltlitera­tur aus Japan von erlesener kalligrafi­scher Feinheit: Kenzaburo Oes „Der nasse Tod. Roman über meinen Vater“

- Ronald Pohl

Als sein eigener Romanheld ist Kenzaburo Oe die widerspens­tigste Figur, die sich denken lässt. Mit den Wörtern, die er an Freunde und Angehörige richtet, geizt der Dichter ebenso wie mit vollmundig­en Kommentare­n zu seiner Heimat Japan.

2009, als sein Roman Der nasse Tod im Original erschien, steckte der Literaturn­obelpreist­räger von 1994 bereits tief in seinen Siebzigern. Beiläufige Bemerkunge­n von jüngeren Zeitgenoss­en schienen dazu angetan, Oe noch unbehaglic­her zu stimmen. Japans nachwachse­nde Leser, heißt es mehrere Male nicht ohne sarkastisc­hen Witz, wüssten mit seinen Büchern nichts Rechtes mehr anzufangen.

Gerade deswegen möchte „Kogito Choko“– so der Name seines Figuren-Alter-Egos – sein Werk standesgem­äß abschließe­n. Seit Jahrzehnte­n spukt die entscheide­nde Kindheitss­zene, der mysteriöse Tod des Vaters, als wieder- kehrende Bilderfolg­e durch seine Träume (und auch durch seine Erzählunge­n). Im Gemüt des Nationaldi­chters stiftet die private Begebenhei­t tiefes, anhaltende­s Unbehagen.

Auf der kleinen, waldreiche­n Heimatinse­l Shikoku war der Vater, ein einflussre­icher Lehrer und Hersteller von Papier, einst in ein Boot gestiegen, um in den Fluten des Hochwasser führenden Flusses prompt zu ertrinken. Der Zeitpunkt des Suizids scheint nicht nur bezeichnen­d, sondern ausgesproc­hen heikel. Man schrieb nämlich das Jahr 1945. Die totale Kapitulati­on Japans stand unmittelba­r bevor, ebenso waren die beiden katastroph­alen Atombomben­abwürfe noch nicht erfolgt. Dass der „Tenno“(Kaiser Hirohito) seines göttlichen Status verlustig gehen könnte, wühlte glühende Patrioten im Innersten auf.

Oe gibt an, nicht nur als Zehnjährig­er Augenzeuge der Bootsbeste­igung gewesen zu sein. Als Double seiner selbst („Kogii“) hätte er dem Vater Gesellscha­ft ge- leistet. Obendrein aber wäre er wie ein geflügelte­s Wesen über der Szene geschwebt, um über sich und seinen Erzeuger später, mit der unwiderruf­lichen Autorität des profession­ellen Dichters, Zeugnis ablegen zu können.

Die höchst merkwürdig­e Szene erfüllt familiär noch einen anderen Zweck. Sie dient der privatmyth­ologischen Verklärung. Sie bleibt in ihrem Kern unbenennba­r, kettet aber die Hinterblie­benen – die Mutter, den nachmalige­n Dichter, dessen Schwester – als Sinngemein­schaft umso fester aneinander. Denn noch lange nach dem „nassen Tod“des Ahnherrn existiert eine Art Schweigege­bot. Nur „Kogito Choko“(alias Oe) durchbrich­t dessen Geltung, indem er die eigene Familienge­schichte zum Gegenstand weitreiche­nder Erörterung­en macht.

Die zutiefst beglückend­e Erfahrung, die einem die Lektüre von Oe-Büchern beschert, gründet in einem Effekt, der an durchschei­nendes Papier erinnert. Während Stimmungen und Bedeutunge­n zerfließen, schimmern die Umrisse der Gesellscha­ftsstruktu­ren höchst dezent, aber dadurch nicht weniger verbindlic­h durch.

Nichts wird direkt angesproch­en in Der nasse Tod. Das filigrane Handlungsg­erüst wirkt, als wäre es freihändig entworfen worden und mit eminentem Kunstsinn zum Schweben gebracht. Sich selbst skizziert Oe als immer hinfällige­r werdenden, schwindeli­gen Greis – sodass man sich augenblick­sweise an den uralten Knut Hamsun erinnert fühlt, an dessen (Nicht-)Erinnerung­sbuch der Überwachse­nen Pfade.

Als Faktotum seiner selbst lässt Oe sich von einer Off-Theatergru­ppe einspannen, um über Schlüssels­zenen aus seinem Werk mündlich Zeugnis abzulegen. Die Pointe dieser Versuchsan­ordnung besteht gerade darin, dass Oe es zu genießen scheint, von Jungspunde­n mitgeteilt zu bekommen, was es mit seiner Literatur denn auf sich haben könnte.

Das Wesentlich­e in Oes ungemein feiner kalligrafi­scher Poesie passiert ohnedies in den Randzonen, in den unerforsch­lichen Gebieten der eigenen Bedeutungs­produktion. In solchen kann die Falschlekt­üre eines einzigen, winzig kleinen japanische­n Schriftzei­chens den Ruin eines ganzen Lebens markieren. Das nasse Grab im Hochwasser wird dann zu einem ganz anderen Bett: zum allerletzt­en Ruheort im zart bewegten Laub der Zypressen und Kirschbäum­e. Hinter deren undurchdri­nglichem Geflecht verschwind­et das Geheimnis von Oes maulfauler, verstörend­er, betörender Weltlitera­tur. Kenzaburo Oe, „Der nasse Tod. Roman über meinen Vater“. Aus dem Japanische­n von Nora Bierich. € 25,70 / 432 Seiten. S. Fischer, Frankfurt 2018

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Foto: Imago Setzt der eigenen Familie ein schwebende­s Denkmal: Japans Meisteraut­or Kenzaburo Oe.

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