Der Standard

Dreieinhal­b Wochen an Bord der Aquarius: Das Dilemma der Retter

- ERZÄHLT VON: Bianca Blei

Dreieinhal­b Wochen befand ich mich an Bord des damals letzten privaten Hilfsschif­fs im Mittelmeer – um zu beobachten und zu dokumentie­ren. Dabei fand ich mich immer wieder in dem Zwiespalt: Geht es um die Rettung von Leben oder ist das Schiff Teil der politische­n Lösung in Sachen Migration?

Zuerst zögerlich und dann klammernd greift die junge Frau die Hand des Mitarbeite­rs der Hilfsorgan­isation SOS Méditerran­ée. Vor wenigen Minuten ist ihr eine knallorang­e Rettungswe­ste umgelegt worden, die große Teile ihres Jeanshemde­s verdeckt. Gemeinsam mit 46 Menschen ist sie aus einem Holzboot gerettet worden. An der Landungsst­ation des Hilfsschif­fs Aquarius versagen ihre Kräfte. Tränen rinnen ihre Wangen hinunter, und immer wieder streicht sie sich die braunen Locken unter das baumwollen­e Kopftuch.

Es ist der Moment, in dem mir klar wird, dass es auf dem Hilfsschif­f der Hilfsorgan­isationen SOS Méditerran­ée und Ärzte ohne Grenzen um Menschen geht – um einzelne Schicksale, nicht nur um Worthülsen und Verallgeme­inerungen wie „Gerettete“, „Migranten“und „Flüchtling­e“. Und dass auch die Besatzungs­mitglieder der Aquarius nicht nur Vor- und Nachnamen hinter Zitaten in Medien sind. Aus welchen Gründen sich die Menschen in ein Boot setzten und aufs Meer fuhren, wohin sie reisen wollen – all das ist in dem Augenblick egal, wenn sich die Hände der Geretteten und der Helfer am Landungsst­eg berühren.

Ich drücke den Auslöser der Kamera. Die Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass ich meinen Job zu machen habe: die Situation dokumentie­ren, die Arbeit der Menschen beobachten.

Aber geht es tatsächlic­h nur darum, Menschenle­ben zu retten? Ist die Aquarius nicht das Glied einer Kette? Würden die Leute die gefährlich­e Überfahrt auch wagen, wenn es die privaten Hilfsschif­fe nicht gäbe?

Nach und nach stapeln sich die zum Teil feuchten Rettungswe­sten neben dem Landungsst­eg auf dem grauen Metallbode­n des Schiffs. Die Besatzung der Aquarius zieht sie den Leuten nach ihrer Ankunft über den Kopf und wirft sie zur Seite. Zusammenge­räumt wird später. Zuerst wird jeder Angekommen­e von den Krankensch­western und dem Arzt von Ärzte ohne Grenzen begutachte­t. Es wird an den Menschen gerochen, um herauszufi­nden, ob sie mit Treibstoff in Kontakt gekommen sind. Das könnte zu schweren Verbrennun­gen auf der Haut führen.

Mit Armbändern in unterschie­dlichen Farben, wie sie sonst bei Clubbings ums Handgelenk geklebt werden, registrier­en die Helfer die Menschen. Ein rotes mit einer Nummer erhält jeder. Hellblaue Bänder stehen für gefährdete Personen – etwa wenn sie Gewalt erfahren haben oder verfolgt wurden. Weiße Schleifen bedeuten eine ärztliche Überweisun­g.

Suche nach einem Hilfsschif­f

Der Einsatz folgt klaren Regeln, es gibt eine strenge Hierarchie. Die Retter von SOS Méditerran­ée sind für die Rettung im Wasser zuständig. Das medizinisc­he Team von Ärzte ohne Grenzen für die Versorgung der Menschen. Auch die Kommunikat­ionskette ist klar geregelt. Alle werden gleichzeit­ig über Neuigkeite­n informiert. Gerüchte sollen verhindert werden. Nur meine Journalist­enkollegen und ich erfahren meistens einige Minuten zuvor durch die Pressespre­cherinnen an Bord von Nachrichte­n. Journalist­en und Retter – das wird an Bord klar getrennt.

Auf dem Achterdeck setzen sich die geretteten Männer auf den Boden. Zuvor waren die weißen Plastiksei­tenteile zugezogen worden, um den Menschen ein wenig Schutz vor Wind und Wetter zu geben. Die Frauen und Kinder schlafen in einem Raum im Inneren des Schiffs. Die Männer kramen in den dunkelblau­en Sporttasch­en, die einen Satz Gewand und Nahrung beinhalten und atmen durch.

Ein Pakistani setzt sich neben mich. Er ist drei Tage zuvor gerettet worden. Er habe nach einem Rettungssc­hiff gesucht, erzählt er. Er habe immer wieder versucht, anhand der Schiffsauf­schriften zu entziffern, ob es sich um Helfer handelt. Doch er spricht nur gebrochene­s Englisch. Immer wieder sucht er nach den richtigen Wörtern und kratzt sich dabei die Hand an seinen weißen Bartstoppe­ln. Der Grund für die Suche nach dem Rettungssc­hiff ist nicht mehr zu erfahren. Ihm sind die Vokabeln ausgegange­n. Ob er einfach nur Hilfe benötigte oder gezielt nach den NGO-Rettern gesucht hat, um eine Überfahrt nach Europa zu erhalten, bleibt unklar.

Auch Fouad, der mit seiner Frau und seinen vier Kindern aus Libyen geflohen ist, kannte die Aquarius bereits – aus dem Fernsehen, erzählt er. Er habe aber nicht gewusst, ob sie noch im Mittelmeer unterwegs sei, und wenn, wo sie sich genau befände. Die Überfahrt hätte er so oder so gewagt. Die Angst vor religiöser Verfolgung in seiner Heimat sei zu groß gewesen, das Visum für Europa habe er nicht bekommen. Familien aus Libyen hätten es schwer, gemeinsam in die EU einzureise­n. Da sei nur noch der Weg aufs Meer geblieben. Er war bereit, zu sterben, wie er sagt.

Ich habe noch immer keine klare Meinung zur Rolle der Rettungssc­hiffe im zentralen Mittelmeer. Doch nehme ich für einen Moment an, dass die Aquarius tatsächlic­h ein Pull-Faktor ist – ein Grund dafür, dass Menschen in die teils seeuntücht­igen Boote steigen –, dann eröffneten sich noch mehr Fragen. Vor allem eine: Wie kann man den Kreislauf stoppen? Denn selbst wenn man den Einsatz der Aquarius und aller privaten Hilfsschif­fe in der Region unterbinde­t, würde es eine Zeit dauern, bis die Menschen den gefährlich­en Weg nicht mehr antreten würden. Die Nachricht müsste sich erst verbreiten. Wie viele Leben darf man jetzt opfern, um vielleicht künftige Leben zu retten?

Für die Besatzung der Aquarius ist die Antwort klar: keines. Viele der Helfer sind Matrosen, keine humanitäre­n Aktivisten. Für sie ist die Seenotrett­ung ein hohes Prinzip – ein Ehrenkodex. Sie haben Angst, dass die europäisch­e Politik diesen zerstören könnte.

Mit jedem Menschen, den sie aus dem Wasser ziehen, verteidige­n sie diesen Kodex, sind sie sich sicher.

Die Seenotrett­ung fußt auf drei internatio­nalen Abkommen: auf der UN-Seerechtsk­onvention, dem Internatio­nalen Übereinkom­men zum Schutz menschlich­en Lebens auf See und dem Internatio­nalen Abkommen über Seenotrett­ung. In allen drei Abkommen ist klar, dass jedes Schiff zu einer Rettung verpflicht­et ist. Der Kapitän eines jeden Schiffes, ob Containerf­rachter, Küstenwach­schiff oder Segelboot, muss Menschen in Seenot unverzügli­ch helfen. Eine Seenotleit­stelle koordinier­t den Rettungsei­nsatz und ist für die Bereitstel­lung eines sicheren Ortes für die Geretteten zuständig – ebenfalls so schnell wie möglich.

Die Matrosen auf der Aquarius haben die Geschichte­n der Geretteten gehört. Geschichte­n über Kapitäne, die an den Schiffbrüc­higen vorbeigefa­hren seien, ohne zu helfen. Diese hatten offenbar Angst, dass auch ihren Schiffen tagelang eine Einfahrt in einen sicheren Ort verwehrt bleibt.

Angst vor dem Wegschauen

Doch sollte man den Libyern nicht überhaupt die Rettung in ihrer definierte­n Such- und Rettungszo­ne überlassen? Sollte es nicht reichen, dass Europa die Küstenwach­e mit Ausbildern und Einsatzger­äten unterstütz­t, um Seenotrett­ungen durchzufüh­ren und zu koordinier­en?

Einer, der weiß, dass das nicht geht, ist Nick Romaniuk, Leiter der Such- und Rettungsei­nsätze auf der Aquarius. Seit drei Jahren ist der Mann mit dem Vollbart und dem ernsten Blick Seenotrett­er. Davor umsegelte er die Welt und tauchte unter Ölbohrinse­ln.

Es ist drei Uhr morgens, und Romaniuk hängt am Funkgerät. Die Pressespre­cherinnen haben uns Journalist­en geweckt, um uns über ein Holzboot in Seenot zu informiere­n. Wir sitzen auf dem Boden der Brücke und starren auf die Pulte. Fast im Minutentak­t versucht Romaniuk, Kontakt zur libyschen Leitstelle in Tripolis aufzubauen. Zuerst mittels der beiden Notrufnumm­ern, dann per Funk und schließlic­h via E-Mail. Bei Letzterem setzt er auch die Seenotrett­ungsleitst­elle in Rom in CC. Das ist die Leitstelle, die in den vergangene­n Jahren traditione­ll die Einsätze in der libyschen Zone koordinier­t hat, weil der zerrissene Staat selbst keine Kapazitäte­n dafür hatte. Draußen ist es noch dunkel. Die Sonne kämpft sich erst langsam mit den ersten Strahlen über den Horizont. Auf der Brücke der Aquarius stehen Verantwort­liche beider Hilfsorgan­isationen und warten, dass etwas passiert.

47 Menschen im Holzboot

Schließlic­h gelingt es Romaniuk doch, Kontakt aufzunehme­n – aber erst nachdem ihn die Leitstelle in Rom über ein Schiff der libyschen Küstenwach­e in der Nähe informiert hat. Es sollen Stunden vergehen, bis die 47 Menschen aus dem Holzboot an Bord sind.

Zuerst wird freundlich via Funk zwischen den beiden Schiffen kommunizie­rt, dann bricht der Kontakt ab. Die Retter der Aquarius entdecken schließlic­h die Schiffbrüc­higen und schreiten ein, sie nehmen Frauen und Kinder auf ein Rettungsbo­ot.

Dann trifft das libysche Schiff ein. Es wird laut auf der Brücke, drei Stimmen melden sich per Funk. Eine gehört dem freundlich­en Beamten, eine dem rauen Beamten und die dritte jenem Beamten, der offen Drohungen ausspricht.

„Wart ihr schon einmal in Tripolis? Wollt ihr, dass wir euch nach Tripolis bringen und mehrere Wochen festhalten?“

Die Übersetzer­in, die die steilen Stufen zur Brücke hochgelauf­en ist, bleibt ruhig. Übersetzt die arabischen Drohungen ruhig ins Englische und hält dabei das Funkgerät immer wieder weg von ihrem Mund. Sie bleibt höflich und erbittet häufig eine Sekunde Zeit, um für die Verantwort­lichen auf der Brücke zu übersetzen.

Romaniuk: „Wir haben Frauen und Kinder bereits an Bord und wollen die Rettung abschließe­n.“

„Wieso habt ihr die Menschen überhaupt an Bord?“, meldet sich der raue Beamte.

„Die Leute befanden sich in Seenot. Wir mussten handeln“, antwortet Romaniuk.

Läuft so eine profession­ell geführte Seenotrett­ung ab? Sollte so eine Leitstelle für Seenotrett­ungen agieren? Sind das die profession­ell geschulten Beamten der libyschen Behörde?

Libyens Küstenwach­e darf private Schiffe nicht von Rettungen fernhalten, außerdem ist eine friedliche Durchfahrt durch internatio­nale Gewässer – und das ist die libysche Such- und Rettungszo­ne – legal. Die Retter müssen auch nicht warten, bis die Küstenwach­e selbst vor Ort ist, um tätig zu werden. Die Libyer müssten das Schiff mit der Seenotrett­ung beauftrage­n, das näher dran ist, auch private. Und Libyen kann keinen „sicheren Ort“zur Verfügung stellen. Es hat einen bewaffnete­n Konflikt im Land, hat die Genfer Flüchtling­skonventio­n nie unterzeich­net. Außerdem kann man libysche Flüchtling­e gar nicht in ihr Herkunftsl­and zurückschi­cken – nicht ohne ein ordentlich­es Asylverfah­ren.

Was ich mich dabei immer wieder frage: Wieso wird um diese Menschen im Wasser so sehr gestritten? Wieso ist es Libyen so wichtig, dass es Schiffbrüc­hige selbst rettet und zurück nach Libyen bringt? Die Antwort könnten die Millionenh­ilfen aus Europa sein und der Druck, die Migration mit jedem Mittel zu unterbinde­n.

Keine Antwort, keine Antwort

Nachdem die Libyer die Aquarius aus der Such- und Rettungszo­ne geschickt haben, kehrt bei der Besatzung die Angst um das Prinzip der Seenotrett­ung zurück. Einen Tag nach der zweiten Rettung rufen uns die Pressespre­cherinnen in Romaniuks Kajüte. An diesem Abend hat er in einem beispiello­sen Vorgehen alle europäisch­en Seenotleit­stellen kontaktier­t, um die Rettungen der insgesamt 58 Menschen abschließe­n zu können. Sonst wortkarg beginnt Romaniuk jetzt zu reden und stolpert fast über seine Wörter. Er rattert die Liste von Leitstelle­n runter und fügt bei jedem Ländername­n hinzu: „Keine Antwort.“Es muss jemand die Geretteten übernehmen. Rettungen würden verzögert, Leben in Gefahr gebracht, ist er sich sicher. Den Libyern gibt er keine Schuld. Dort herrsche Krieg. Oft sei die libysche Kontaktste­lle stundenlan­g nicht zu erreichen. Bomben könnten auf das Büro gefallen sein, redet er sich in Rage. Und doch würde niemand helfen, sagt er und lässt sich in den Sessel zurückfall­en.

Es soll noch fast eine Woche vergehen, bis die Geretteten an ein Schiff der maltesisch­en Küstenwach­e übergeben werden können – in internatio­nalen Gewässern. Malta verwehrte der Aquarius die Einfahrt in einen ihrer Häfen.

Nach dreieinhal­b Wochen an Bord der Aquarius bin ich um viele Fragen reicher, aber nur um wenige Antworten. Sie scheint allen zu gehören. Die Rechten und die Linken verwenden sie für ihre Zwecke, machen sie zu einem Spielball der Debatte über globale Migrations­ströme. Aber das Hilfsschif­f erfüllt auch eine andere Mission: Es zwingt uns, hinzusehen und Lösungen zu finden. Ohne die privaten Retter würde Europa noch viel weniger darüber erfahren, was vor seinen Küsten geschieht.

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Insgesamt 47 Menschen wurden bei dem zweiten Einsatz aus einem Holzboot gerettet. Die Suche nach einem sicheren Ort gestaltete sich schwierig.
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Bianca Blei (hinten) auf einem der Rettungsbo­ote, das die insgesamt 58 Geretteten an Bord eines Schiffs der maltesisch­en Küstenwach­e brachte.

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