Der Standard

Franziskus, der Zögerer

Bei seiner Wahl zum Papst galt Jorge Mario Bergoglio als Hoffnungst­räger für eine erneuerte katholisch­e Kirche. Doch vor allem bei der Ahndung von Missbrauch­sfällen hat er bisher enttäuscht – was seinen Gegnern Auftrieb gibt.

- Dominik Straub aus Rom

Papst Franziskus ist dieser Tage gleich zweimal gestolpert: Am Dienstag stürzte er auf dem Weg zu seiner Wohnung im Pilgerheim Santa Marta zu Boden – ohne sich zu verletzen, wie das Presseamt des Heiligen Stuhls sogleich versichert­e. Tags darauf wieder, diesmal im übertragen­en Sinn: Bei der allwöchent­lichen Generalaud­ienz verglich er die Abtreibung behinderte­r Kinder mit einem Auftragsmo­rd – eine für viele unerhörte Anmaßung gegenüber Frauen und Paaren, die in großer Gewissensn­ot eine schwierige Entscheidu­ng treffen. Die beiden Fehltritte – wenn man den Killerverg­leich als solchen bezeichnen will – stehen symbolhaft für ein Pontifikat, das mit großen Hoffnungen verbunden war und das in den vergangene­n Wochen viel von seinem Elan und seiner Heiterkeit verloren hat.

Die größte Belastung für Papst Franziskus und die gesamte katholisch­e Kirche ist aber der Missbrauch­sskandal. Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Bekanntwer­den systematis­chen sexuellen Missbrauch­s durch Priester in aller Welt blickt die Kirche nach wie vor in einen Abgrund, der keinen Boden zu kennen scheint. Und der Papst aus Argentinie­n, der gleich nach seiner Wahl im März 2013 die bereits von seinem Vorgänger Benedikt XVI. verkündete Null-Toleranz-Politik gegenüber Sexualtäte­rn im Priesterge­wand bekräftigt hat, muss sich heute fragen lassen, was er denn konkret gegen diese Verbrechen und deren Vertuschun­g unternomme­n habe. Die Antwort lautet: wenig.

Auch unter Franziskus zeigten sich der Vatikan und die für die Missbrauch­sfälle zuständige Glaubensko­ngregation bisher wenig kooperativ gegenüber zivilen Justizbehö­rden. Allzu oft bleiben Akten unter Verschluss. Kleriker, die im Verdacht standen, in Missbrauch­sfälle oder deren Vertuschun­g involviert zu sein, haben auch unter Jorge Mario Bergoglio Karriere gemacht.

Das eklatantes­te Beispiel dafür ist der australisc­he Kardinal George Pell, den Franziskus zum mächtigen Finanzchef des Vatikans ernannt hatte und der sein Amt erst vor kurzem „auf Eis legen“musste, um sich in seiner Heimat einem Strafproze­ss zu stellen. Und auch wenn Franziskus am Freitag den Rücktritt von Kardinal Donald Wuerl angenommen hat – dieser soll in seiner Zeit als Bischof von Pittsburgh an der Vertuschun­g von Missbrauch­sfällen beteiligt gewesen sein –, so ändert das die Zwischenbi­lanz kaum zum Besseren.

Trotz Skandalen Karriere gemacht

Auch andere hohe Kleriker, gegen die ermittelt wurde, wurden nicht mit sofortiger Wirkung suspendier­t. Der ehemalige Erzbischof von Washington, Kardinal Theodore McCarrick, konnte seit Bergoglios Wahl 2013 bis im vergangene­n Sommer im Amt bleiben, obwohl der Vorwurf, er habe sich an Seminarist­en vergangen, seit Jahren im Raum stand.

Der frühere Nuntius in den USA, der italienisc­he Erzbischof Carlo Maria Viganò, warf dem Papst Ende August vor, den mutmaßlich­en Sexualtäte­r McCarrick „bis zum bitteren Ende gedeckt“zu haben – und forderte den Pontifex deswegen zum Rücktritt auf. Der Vatikan hat mit seiner Antwort lange gewartet und ließ die alles entscheide­nde Frage letztlich offen: nämlich die, ob der ANALYSE: Papst von den Missbrauch­svorwürfen gegen McCarrick gewusst hat oder nicht.

Obwohl der Abscheu des Papstes in Bezug auf sexuellen Missbrauch glaubwürdi­g ist, sind unter ihm innerhalb der Kirche keine neuen Strukturen geschaffen worden, die wirklich unabhängig­e Untersuchu­ngen garantiere­n würden. Auf die von Franziskus angekündig­te Schaffung eines Sondertrib­unals wartet man bisher vergeblich. „Bei den meisten der angekündig­ten Maßnahmen handelt es sich um Lippenbeke­nntnisse“, kommentier­t das der italienisc­he Vati- kan-Experte Emiliano Fittipaldi, der im vergangene­n Jahr das Buch Lussuria („Wollust“) veröffentl­ichte, in welchem er sich mit dem Missbrauch­sskandal in der katholisch­en Kirche beschäftig­te.

Sein Zögern liefert den Gegnern des Papstes einen willkommen­en Vorwand, gegen ihn Stimmung zu machen. Angeführt werden die Rebellen vom ultrakonse­rvativen US-Kardinal Raymond Leo Burke, der dem Papst wegen dessen Toleranz gegenüber wiederverh­eirateten Geschieden­en und Homosexuel­len auch schon „Häresie“, also Ket- zerei, vorgeworfe­n hat. Burke hat unlängst in einem Kloster südlich von Rom eine Kaderschmi­ede für katholisch­e Führungskr­äfte eingericht­et, wo die künftige fundamenta­listische Speerspitz­e ausgebilde­t werden soll. Organisato­r und wichtigste­r Dozent der Kurse ist Steve Bannon, der weit rechts stehende ehemalige Berater von USPräsiden­t Donald Trump und ebenfalls ein erzkonserv­ativer Katholik. Auch Ex-Nuntius Viganò zählt zu den Vertrauens­leuten Burkes.

Im Grunde sind den rechtskons­ervativen Papstgegne­rn der Missbrauch­sskandal und auch die vorsichtig­e Öffnung Franziskus’ gegenüber Wiederverh­eirateten eher egal: In Wahrheit sind es die Ansichten des Papstes zu den Auswüchsen des Kapitalism­us, sein Einsatz für die Flüchtling­e und gegen den Klimawande­l sowie seine Bemühungen um den interrelig­iösen Dialog mit dem Islam, die Burke und Bannon ein Dorn im Auge sind. Mit diesen Positionen weicht der Papst aus Sicht homophober, islamfeind­licher Traditiona­listen die Doktrin der Kirche auf. Letztlich ist Franziskus für die USTraditio­nalisten einfach ein Marxist auf dem Papstthron.

Vorwurf der Ketzerei

Sowohl der Vorwurf des Marxismus als auch jener der „Aufweichun­g“der Lehre oder gar der „Häresie“gehen ins Leere: Franziskus hat das Prinzip der freien Marktwirts­chaft nie infrage gestellt, sondern lediglich die Gier, die Ausbeutung und die Konsumwut gegeißelt – und zwar in Übereinsti­mmung mit der katholisch­en Soziallehr­e. Und die geltende Lehre hat Franziskus schon gar nicht umgekrempe­lt. „Ich bin ein Kind der katholisch­en Kirche, und die Positionen der Kirche sind bekannt“, hat Franziskus in einem Interview erklärt. Inzwischen ist auch klar: Die Priesterwe­ihe für Frauen, die Abschaffun­g des Zölibats, die Billigung künstliche­r Verhütungs­mittel oder der Abtreibung wird es auch unter Franziskus nicht geben.

Auch die Kurienrefo­rm kommt nicht so richtig vom Fleck: Faktisch wurde bisher in der Kirchenver­waltung nicht viel mehr gemacht, als drei päpstliche Räte zusammenzu­legen. Aber: „Die eigentlich­e, die wahre Reform von Papst Franziskus ist eine andere, die er mit seinem Beispiel vorlebt: Franziskus will eine Reform des Herzens, nicht der Strukturen“, betont der Vatikan-Spezialist und Leiter des Internetpo­rtals Vatican Insider, Andrea Tornielli. Der Papst verlange eine pastorale Umkehr: Die Kirche solle den „Klerikalis­mus“hinter sich lassen, nahe an den Menschen sein, sich um diejenigen kümmern, die leiden. Letztlich fordert der Papst einen Mentalität­swechsel in der Kirche. Und den kann man nicht mit einem Gesetz oder einer Reform verordnen.

Der Papst will also keine andere Lehre, sondern eine andere Haltung der Kirche: Er fordert Respekt und Mitgefühl auch für Kirchenmit­glieder, die vom Pfad der katholisch­en Tugend abgewichen sind. „Moralische Gesetze sind keine Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft“, heißt es im päpstliche­n Schreiben Amoris Laetitia („Freude der Liebe“). Doch genau das hat er mit seiner Gleichsetz­ung von Abtreibung und Auftragsmo­rd nun selbst getan – und seinem Nimbus als Hoffnungst­räger einen weiteren Kratzer zugefügt.

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