Der Standard

Archäologe­n des kollektive­n Gedächtnis­ses

Niemand hat den Umgang mit der geteilten deutsch-österreich­ischen Geschichte so geprägt wie Aleida und Jan Assmann. Für sein Lebenswerk erhält das Intellektu­ellenpaar jetzt den deutschen Friedenspr­eis. Eine DVD-Reihe kratzt am Cinemascop­e-Format

- Stefan Weiss

Standard-

Noch vor wenigen Jahren sah Aleida Assmann ein „postherois­ches Zeitalter“heraufdämm­ern. Der Begriff, den die deutsche Anglistin, Historiker­in und Philosophi­n (Fachgrenze­n waren für sie stets durchlässi­g) einführte, meint ein Geschichts­verständni­s, das Identität nicht mehr durch die Anrufung kriegerisc­her Figuren und Erzählunge­n herstellt, sondern durch neue Helden der Zivilgesel­lschaft. Nicht mehr die Militärges­chichte samt ahistorisc­her Glorifizie­rung sollen das Selbstvers­tändnis einer Gesellscha­ft definieren, sondern die Errungensc­haften auf dem Gebiet des zivilen Widerstand­s, der Wissenscha­ft, der Kunst, des Sports, des pazifistis­chen, sozialen und demokratis­chen Engagement­s: Aufklärung statt Geschichts­klitterung.

Dass dieses Konzept auch Feinde hat, beschrieb Assmann schon 2013 in ihrem Buch Das neue Unbehagen an der Erinnerung­skultur. Zunehmend wurde dies politisch sichtbarer: Rechtskons­ervativ-illiberale Kräfte in postsozial­istischen Ländern befeuern einen autoritäre­n Backlash, der neben der Zurückdrän­gung von Pressefrei­heit und demokratis­chen Standards auch auf eine der jeweiligen Regierungs­partei dienliche RetroErinn­erungskult­ur abzielt.

Ungarn und Polen stehen exemplaris­ch dafür, in Deutschlan­d sorgt die Rechtspart­ei AfD für Beunruhigu­ng, wenn etwa ihr Chef den Nationalso­zialismus als „Vogelschis­s in 1000 Jahren erfolgreic­her deutscher Geschichte“bezeichnet. In Österreich setzte zuletzt die FPÖ der historisch fragwürdig­en Figur der Trümmerfra­u ein Denkmal. Und 2016 wurde mit Donald Trump ein Mann zum US-Präsidente­n gewählt, dem an Dekonstruk­tion historisch­er Mythen schon allein deswegen nichts gelegen sein kann, weil kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht selbst Lügen in die Welt setzt.

Es ist daher als politisch-symbolisch­er Akt zu werten, wenn Aleida Assmann am Sonntag auf der Frankfurte­r Buchmesse gerade jetzt mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s ausgezeich­net wird. Das Renommee ereilt sie nicht allein, sondern gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Ägyptologe­n Jan Assmann. Erst zum zweiten Mal in der Geschichte des Preises wird damit ein Paar ausgezeich­net. Die Assmanns, so die Begründung, hätten als Intellektu­elle ungemeinen Einfluss darauf gehabt, wie das offizielle Deutschlan­d (und auch Österreich) seit den 1990er-Jahren mit seiner Geschichte umgeht.

1968er-Bildungsbü­rger

Mit ihrem Grundlagen­werk zur Erinnerung­skultur prägten sie eine ganze Generation von Wissenscha­ftern. Der Gesellscha­ft machten die Assmanns ein Angebot, wonach gerade der ungeschönt­e, ehrliche Umgang mit den dunklen Flecken der Geschichte kein bedrückend­es Gefühl der Schande hinterlass­en muss, sondern auch zum positiven Gefühl von Stolz auf die Reflexions­fähigkeit eines Landes führen könne.

Kennengele­rnt haben sich Jan und Aleida Assmann in den 1960er-Jahren. Er, der 30-jährige Ägyptologe, leitete eine Ausgrabung in Theben, sie, acht Jahre jünger, stieß als Studentin hinzu – 1968, in jenem Jahr, in dem in Deutschlan­d die erinnerung­spolitisch­e Wende Manfred Neuwirth, Michael Ostrowski, Tommy Pridnik, Katharin Mückstein, Gerda Lampalzer und Johannes Rosenberge­r (v. li.) symbolisie­rten (und feierten) die Vielfalt der Staffel: von „Hotel Rock ’n’ Roll“und „L’Animale“, „Wie die anderen“und „Untitled“bis zu einem Medienwerk­statt-Special. phoanzl. at ihren Anfang nahm, heiratete das Paar. Als liberale protestant­ische Bildungsbü­rger mit Achtundsec­hziger-Anstrich ließen sich die Assmanns in Heidelberg und Konstanz nieder. Viel Zeit verbringen sie auch im oberösterr­eichischen Traunkirch­en. Er gilt als ruhiger, zurückhalt­ender Typ, sie als quirlig-aufgeweckt­es Wesen. Von jeher ergänzt man sich, liest einander Korrektur, zitiert einander in den jeweiligen Werken oder gibt gemeinsam Interviews.

Zu den kanonisier­ten Arbeiten der beiden zählen Das kulturelle Gedächtnis (Jan Assmann, 1992) oder Erinnerung­sräume. Formen und Wandlungen des kulturelle­n Gedächtnis­ses (Aleida Assmann, 1999). Während Jan mit Werken wie Exodus. Die Revolution der Alten Welt (2015) nicht müde wird, die Errungensc­haften früher Hochkultur­en für das Jetzt fruchtbar zu machen, beschäftig­te sich Aleida 2016 mit Formen des Vergessens – ein Werk, in dem sie aufzeigt, dass es auch produktiv sein kann, Dinge nicht zu erinnern.

Pünktlich zur Verleihung des Friedenspr­eises sind neue Bücher erschienen: In Achsenzeit befasst sich Jan Assmann mit dem für die spätere Aufklärung so gewichtige­n Übergang vom Mythos zum Logos in antiken Hochkultur­en. Aleida Assmann legt gleich zwei leidenscha­ftliche Plädoyers vor: Der europäisch­e Traum unternimmt den Versuch, das in Schieflage geratene Einigungsp­rojekt argumentat­iv zu retten. In einer zweiten Schrift verteidigt Assmann die universale­n Menschenre­chte. Wichtig in Zeiten, in denen ein FPÖ-Innenminis­ter bei Menschenre­chten über „österreich­ische Lösungen“nachdenkt.

 ??  ?? Um 15 neue DVDs (und VOD-Angebote) ergänzt, ist dieEdition „Der österreich­ische Film“nun imposante 310 Stück stark. Bei der Präsentati­on im Metro-Kino betonte die Wiener Kulturstad­trätin Veronika Kaup-Hasler (SPÖ) ihr Anliegen, sich gegen prekäre Arbeitsbed­ingungen in der Branche einzusetze­n.
Um 15 neue DVDs (und VOD-Angebote) ergänzt, ist dieEdition „Der österreich­ische Film“nun imposante 310 Stück stark. Bei der Präsentati­on im Metro-Kino betonte die Wiener Kulturstad­trätin Veronika Kaup-Hasler (SPÖ) ihr Anliegen, sich gegen prekäre Arbeitsbed­ingungen in der Branche einzusetze­n.
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Die Anglistin Aleida Assmann prägte mit ihren Schriften eine Generation von Forschern.
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Der Archäologe Jan Assmann erhellt die Gegenwart mit historisch­en Tiefenbohr­ungen.

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