Spielplanmotto: Welt aus den Fugen
Intendant Hermann Schneider über Menschen, die sich in der Gegenwart nicht mehr zu Hause fühlen, Populismus – und wie sich die neue Spielzeit unter dem Motto „Welt aus den Fugen“verstehen lässt.
Seit Hermann Schneider das Linzer Landestheater leitet, wird der saisonale Spielplan gebündelt. Denn man müsse sich heutzutage schon fragen, betont der Intendant im Gespräch mit dem STANDARD, „warum man welche Werke aufführt“. Die Herausforderung bestehe darin, „dass wir zwar Operette, Komödie oder den sogenannten Klassiker haben, aber diese werden unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten Themas zusammengestellt“.
Seine erste Spielzeit 2016/17 stellte Schneider unter dem Motto „Neue Welt“vor, die zweite hieß „Für immer jung“, und die kommende trägt den Titel „Welt aus den Fugen“– frei nach Hamlet, der nach seiner Begegnung mit dem Geist ausruft: „Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram / Dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam.“Im Original: „The time is out of joint ...“Time Out of Joint hieß übrigens 1959 auch ein Science-Fiction-Roman von Philip K. Dick. Darin gerät eine eigens für den Protagonisten geschaffene Scheinwelt aus den Fugen.
Das aktuelle Saisonmotto bilde, so Schneider, „ein Lebensgefühl“unter jenen „ab“, die den Eindruck haben, die Welt verändere sich so radikal, dass sie sich darin nicht mehr zu Hause fühlen. Die Folge sei eine Identitätskrise. „Damit geht das Aufkommen des politischen Populismus einher.“Dass die Welt aus den Fugen, unübersichtlich oder chaotisch ist, sei auch eine sehr subjektive Erfahrung. Für ihn sei daher „das Theater heute mehr denn je ein Ort der Aufklärung“.
Wirklichkeitsverlust
Denn klarerweise habe es Verwerfungen und Paradigmenwechsel, wie sie heute stattfinden, immer schon gegeben. Das bildet den großen Bogen der LandestheaterProgramme. Aufgenommen werde der Faden, so Schneider, im Schauspiel mit einem Werk am Ende aller Utopien, Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade von Peter Weiss: „Aufklärung, die in Gegenaufklärung umschlägt“– mit der Folge des Verlusts von Vernunft und dem Übergang in eine Diktatur.
Neben diesem „politisch-kritischen Ansatz“folgt Schneider auch einem mythischen: „Weltverlust bedeutet nicht nur Identitäts-, sondern auch Wirklichkeitsverlust. Daher setzen wir uns leitlinienartig mit Stücken auseinander, die das auch mythisch beleuchten. Das ist eher im Musiktheater der Fall.“Etwa bei Heiner Müllers Inszenierung von Tristan
und Isolde, in der ein Wertekanon völlig umgedreht wird.
Ähnlich wie in der Rekonstruktion von Müllers Inszenierung geht es auch bei Johann Kresniks
Macbeth um eine Neubefragung früherer ästhetischer Konzepte. Und Die Wand nach Marlen Haushofer in einer Vertonung von Christian Diendorfer – mit einer anonymen Protagonistin „als Blaupause für Emanzipation“– steht paradigmatisch für eine Reihe von großen mythischen Frauenporträts wie Elektra, Penthesilea und Medea im Musiktheater. Dem ist im Tanz die Marie Antoinette von Mei Hong Lin zur Seite gestellt. „An diesen Frauenfiguren werden Herrschaftsverhältnisse in Gesellschaft und Geschichte besonders evident.“
Wo die Lücken und Widersprüche im Programmgefüge liegen? Schneider: „Im Grunde ist es ein sehr geschlossenes System, soll aber kein ideologisches Prokrustesbett sein. Wenn zum Beispiel
La clemenza di Tito oder Der Wald von Alexander Ostrowski inszeniert werden, und es muss immer ,Die Welt aus den Fugen‘ sein, wäre das bloß Ideologie.“Es solle aber „zu wechselseitiger Erhellung und einem Diskurs kommen“, die Impulse setzen.