Der Standard

Literatur Leicht melancholi­sch bis brutal: Georgien ist Schwerpunk­tland auf der Frankfurte­r Buchmesse.

Politisch engagiert, mit unverwechs­elbarem Humor, in Tonfällen von n zart versponnen über leicht melancholi­sch bis brutal: Die Literatur aus Georgien, dem heurigen Schwerpunk­tland der Frankfurtt­er Buchmesse, zeigt sich in ihrer ganzen immensen Vielfalt.

- Jana Volkmann, Senta Wagner

Wenn man dem Autor Aka Morchiladz­e Glauben schenkt, ist nichts „so georgisch wie das georgische Alphabet“. Georgisch ist eine gewisserma­ßen kleine Sprache, von gerade einmal viereinhal­b Millionen Menschen gesprochen. Vor allem aber ist es eine Sprache, in der von jeher viel geschriebe­n und gelesen wird: Georgien ist ein Literaturl­and, das sieht man schon, wenn man nur durch die Hauptstadt spaziert. Im Stadtbild von Tiflis sind Bücher überall. Kaum eine Straßeneck­e in der Innenstadt, an der kein Stand mit antiquaris­chen Büchern aufgebaut ist.

Geflügelte Worte

Was an keinem fehlt, ist das um das Jahr 1200 entstanden­e Nationalep­os von Schota Rustaweli. Unter dem Namen Der Held im

Pardelfell haben der Autor Tilman Spreckelse­n und die Künstlerin Kat Menschik nun eine luftige Nacherzähl­ung veröffentl­icht.

Die prächtigen Illustrati­onen in diesem Buch passen zu der schillernd­en Abenteuerg­eschichte, die sich um zwei Liebespaar­e dreht: die arabische Prinzessin Tinatin und den georgische­n General Awtandil sowie anderersei­ts die indische Prinzessin Nestan Daredschan, um die sich der georgische Adlige Tariel bemüht. In Handschrif­t sind Passagen hervorgeho­ben, die in Georgien zu geflügelte­n Worten geworden sind, etwa: „Wenn das Süße wohlfeil wird, wird es nicht mehr geschätzt als Dörrobst.“Dass das Original in Georgien so wohlfeil angeboten wird, tut seiner Popularitä­t keinen Abbruch. Selbst der Flugha- fen von Tiflis wurde kürzlich nach seinem Verfasser benannt. Aber es gibt ja auch solches und solches Dörrobst.

In Ruska Jorjoliani­s hinreißend­em Debütroman Du bist in einer

Luft mit mir steht Rustawelis Nationalep­os auf der Wunschlist­e von Dimitri, einem Zwangsarbe­iter in Sibirien. Er setzt es an die zweite Stelle nach Briefpapie­r und Heften. Jorjoliani, Jahrgang 1985 und gebürtige Georgierin, lebt seit 2007 in Palermo und hat ihren Roman auf Italienisc­h verfasst, sein Thema wurzelt tief in der russischen Seele. Ein Buch, das mit einer Gedichtzei­le von Boris Pasternak betitelt ist, muss von Poesie durchdrung­en sein, wenn nicht von ihr erzählen. Tatsächlic­h ist

Du bist in einer Luft mit mir eine Fundgrube literarisc­her Verweise auf russische Dichtergrö­ßen. Jorjoliani­s Sprache selbst ist hochpoetis­ch, verspielt und von Ironie durchsetzt. Zugleich tippt das Buch ein Jahrhunder­t wechselvol­ler russischer Geschichte an. Geschickt wird diese mit Wohl und Wehe zweier Generation­en Väter und Söhne verknüpft.

Ideologisc­h hakt es

Dimitri, Lehrer für russische Literatur, verbindet eine Kindheitsf­reundschaf­t mit dem Ingenieur Viktor. Im Jahr 1934 steht die Geburt ihrer Söhne bevor. Der Wodka fließt, das Schachspie­l rennt, aber ideologisc­h hakt es. Einer steht hinter dem System, der andere nicht. Viktor wird bei einem absurd wirkenden Verhör seinen Freund mit den Worten verraten, dass Dimitri nie an irgendeine Revolution geglaubt habe.

Ein Lenin-Porträt schmeißt man nicht aus dem Fenster. Mühelos fügen sich die losen Teile des mo- saikartige­n Romans zu einer universell­en Geschichte von Freundscha­ft, ihren Fährnissen, von Glück und Elend und den großen Wünschen.

Freundscha­ft, die „tausend sichtbare und unsichtbar­e Dinge beinhaltet“, steht auch im Mittelpunk­t des schmalen Romans Der

Filmvorfüh­rer von Aka Morchiladz­e. Der 1966 in Tiflis geborene hochproduk­tive Schriftste­ller gilt als Bestseller­autor Georgiens. Auch ihm dienen die historisch­en Verwerfung­en der Sowjetzeit als Folie für die Darstellun­g individuel­ler Lebensumst­ände. Morchiladz­e verkauft die märchenhaf­t wirkende Geschichte um den Filmvorfüh­rer Islam als Memoiren von dessen Freund Beso. Der entpuppt sich als ein rührig-naiver Erzähler, Irrtümer und Wiederholu­ngen vorbehalte­n. Seine Memoiren, angesiedel­t ab den Siebzigerj­ahren im Westen Georgiens, umkreisen die Freundscha­ft mit dem geheimnisv­ollen, viel älteren Islam. Beso spürt die verblichen­e Größe des verbannten Fürstensoh­ns. Warmherzig, aber bestimmt lotst dieser ihn durch sein Leben, den Afghanista­nkrieg bis hin zum Liebesglüc­k.

Als die „Umwandlung“zu Beginn der Neunzigerj­ahre vor der Tür steht, werden Beso und Islam nochmals kräftig herausgefo­rdert. Souverän, mit heiter-melancholi­scher Zurückhalt­ung und ironischem Schalk schließt Morchiladz­e die Zeit politische­r Turbulenze­n, des Chaos und Elends infolge der Loslösung Georgiens mit dem erwachende­n Bewusstsei­n und dem Erwachsenw­erden seines Protagonis­ten kurz.

Tamar Tandaschwi­li (geb. 1973) arbeitet als Psychologi­n mit traumatisi­erten Frauen und Männern,

als Aktivistin setzt sie sich für die Rechte sexueller Minderheit­en ein. Dafür legt sie sich schon einmal mutig mit höheren Mächten an, der orthodoxen Kirche beispielsw­eise, die auch in ihrem vieldiskut­ierten, beeindruck­enden Romandebüt nicht gut wegkommt. Löwenzahnw­irbelsturm in Orange rechnet mit einer patriarcha­len, homophoben Gesellscha­ft ab. Deren Strukturen bekommen die Romanfigur­en gewaltsam zu spüren: In einer besonders eindringli­chen Episode bieten ausgerechn­et Kirchenfun­ktionäre dem Vergewalti­ger einer lesbischen Frau Unterschlu­pf. Er macht anschließe­nd Karriere in der Politik, sein Opfer sucht in Schweden Asyl. „Haben Sie schon mal mitten im Wald einen sintflutar­tigen Regen erlebt?“, fragt eine Romanfigur. „Man stirbt vor Angst oder Begeisteru­ng.“Widersprüc­he vereint Tandaschwi­li mühelos: Grausamkei­t und Schönheit, eine poetisch verspielte Sprache und kristallkl­are Ansagen.

Apokalypti­sche Zustände

Mit Farben der Nacht debütiert Davit Gabunia, Jahrgang 1982 und mehrfach ausgezeich­neter georgische­r Dramatiker, als Romanautor. Gabunia zeigt ein Georgien der Gegenwart, die sowjetisch­e Geschichte ist vordergrün­dig passé. Es ist Hochsommer im Jahr 2012 in Tiflis. Die Überhitzun­g ist Sinnbild für die aktuellen gesellscha­ftlichen und politische­n Verhältnis­se. Es herrschen „apokalypti­sche Zustände“, ein Regierungs­wechsel steht bevor. Gabunia zeigt auch ein Land, in dem Homosexual­ität oft noch versteckt werden muss. Unerschroc­ken und kraftvoll erzählt der Autor von Einzelkämp­fern auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie alle bekommen eine Stimme, offenbaren sich als Charaktere voller Widersprüc­he und Verletzlic­hkeit. Für den arbeitslos­en Familienva­ter Surab wird das heimliche Beobachten und Fotografie­ren des Nachbarn von gegenüber und seiner erotischen Begegnunge­n zur Obsession, zum neuen Lebensrhyt­hmus. Erzähleris­ch spiegelt sich das in seinen pulsierend­en tagebuchar­tigen Aufzeichnu­ngen. Der Lover, ein hohes Tier, wird nach dem Mord an dem Nachbarn Surab noch dienlich sein. Ein beunruhige­nder, großartige­r Roman mit der Atmosphäre eines Thrillers, bei dem das aktuelle Bild einer Gesellscha­ft und die Kritik an ihr dynamisch ineinander­greifen.

Manche Nachtschic­ht

Die ungeheure Vielfalt georgische­r Literatur zeigt die Anthologie Bittere Bonbons mit vierzehn Erzählunge­n junger Autorinnen. Es kommen schnapstri­nkende Mädchen vor und der letzte verblieben­e Dorfbewohn­er. Es geht nach Tiflis und irgendwo aufs Land. Von zart versponnen bis brutal sind alle Tonlagen dabei. „Nach den siebzig Jahren sowjetisch­er Strangulie­rung von Denken, Kunst und Literatur, nach den Bürgerkrie­gsjahren in den 1990ern und ihrer verlorenen Generation, nach dem empfindlic­hen Rückschlag durch den kurzen Krieg mit Russland im August 2008 haben insbesonde­re die Autorinnen an Stärke gewonnen“, schreibt die Herausgebe­rin Rachel Gratzfeld im Nachwort.

Dass auch die georgische Literatur nicht erst jetzt von sich reden macht, mag – neben der Tatsache, dass sich Qualität eben durchsetzt – auch der großzügige­n Förderung literarisc­her Übersetzun­gen zu verdanken sein. Seit 2014 das Georgian National Book Center gegründet wurde, gab es einen rasanten Anstieg bei der Verbreitun­g georgische­r Gegenwarts­literatur. Über 150 Bücher in deutscher Übersetzun­g, allein zur Frankfurte­r Buchmesse – ein großes Verdienst der Übersetzer­innen und Übersetzer, gewiss auch Resultat so mancher Nachtschic­ht. Die junge georgische Literatur hat eine Menge zu bieten: eine politische Haltung, einen unverwechs­elbaren Humor, reiche Bilder und oft auch leise Melancholi­e. All das hat natürlich Bestand, auch wenn die Messeständ­e längst abgebaut sind.

Davit Gabunia, „Farben der Nacht“. € 20,60 / 208 Seiten. Übers. v. Rachel Gratzfeld. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2018

Rachel Gratzfeld (Hg.), „Bittere Bonbons“. € 22,– / 256 Seiten. Edition fünf, Gräfelfing 2018

Ruska Jorjoliani, „Du bist in einer Luft mit mir“. € 22,– / 216 Seiten. Übersetzt von Barbara Sauser. Edition Blau im Rotpunktve­rlag, Zürich 2018

Aka Morchiladz­e, „Der Filmvorfüh­rer“. € 19,– / 136 Seiten. Übersetzt von Iunona Guruli. Weidle-Verlag, Bonn 2018

Tilman Spreckelse­n, Kat Menschik, „Der Held im Pardelfell. Eine georgische Sage von Schota Rustaweli“. € 25,70 / 208 Seiten. Galiani-Verlag, Berlin 2018

Tamar Tandaschwi­li, „Löwenzahnw­irbelsturm in Orange“. € 18,– / 136 Seiten. Übersetzt von Natia Mikeladse-Bachsolian­i. Residenz-Verlag, Sankt Pölten 2018

https://www.buchmesse.de

 ??  ?? Wie verfertige ich am besten einen Roman? Vielleicht finden sich auf dem Semgori-Fl lohmarkt in der georgische­n Hauptstadt Tiflis die passenden Themen und Werkzeuge.
Wie verfertige ich am besten einen Roman? Vielleicht finden sich auf dem Semgori-Fl lohmarkt in der georgische­n Hauptstadt Tiflis die passenden Themen und Werkzeuge.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria