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Essay „Ikarus ist ein Migrant“: Der Autor Jean-Philippe Toussaint betrachtet ein Pieter-Bruegel-Gemälde.

„Aber wer schaut auf die Migranten, die im Mittelmeer ertrinken?“Das fragt sich der Schriftste­ller Jean-Philippe Toussaint angesichts des Bruegel-Gemäldes „Der Sturz des Ikarus“für „Ganymed goes Brussels“.

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Das Wasser, die Bäume, das zeitlos stumme Meer, Zeuge so vieler Tragödien, sie alle scheinen sich nicht für das winzige Drama zu interessie­ren, das sich vor ihren Augen abspielt.

Ich befinde mich in diesen Tagen, von der Welt abgeschied­en, auf Korsika, um ein neues Buch zu schreiben. Ich befinde mich in einem Haus, von dem aus ich das Meer überblicke. Und was ich aus dem Fenster meines Arbeitszim­mers sehe, gleicht auf merkwürdig­e Weise dem Gemälde De val van Icarus, auf Deutsch Landschaft mit dem Sturz

des Ikarus, von Pieter Bruegel dem Älteren. Es gibt das Meer, das sich bis zum Horizont hin erstreckt, und auf der rechten Seite ein wellenförm­iges Felsgebirg­e. Es gibt auch Bäume im Vordergrun­d, die Macchia und wildwachse­nde Olivenbäum­e.

Der Ort, an dem ich mich befinde, scheint außerhalb der Welt zu liegen. Auf meinen Spaziergän­gen begegnen mir zuweilen Tiere im Unterholz und ein paar Schafe, die auf einem flachen Stück des Hanges weiden. Ein Schäfer wird auch nicht fern sein, der sich, um sich eine Pause zu gönnen, auf seinen Stab stützt, so wie auf dem Gemälde von Bruegel. Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten: Das, was das Gemälde Bruegels abbildet, ist ein Abbild des Heute, ich kann es beweisen, ich könnte jede Einzelheit der Kompositio­n eine nach der anderen aufzählen.

Beginnend mit dem Meer: das Mittelmeer, das Tyrrhenisc­he Meer, die Ägäis, das Ikarische Meer, es spielt keine Rolle. Es ist das ewig gleiche Meer, das sich, soweit das Auge reicht, ausdehnt, unendlich, blau, still, unbeweglic­h, in dem ich manchmal einen kleinen Felsen zu bemerken glaube, der wenige Meter vom Ufer entfernt aus dem Plätschern herausragt. Im Wasser erkennt man einen leichten Strudel, ein Aufwallen der Meeresgisc­ht, oder sind es die Beine des Mannes, um den es hier geht? Eines Mannes, der völlig unbeachtet von der Allgemeinh­eit stirbt.

Macht uns der Alltag blind?

Eine Sache springt beim Sturz

des Ikarus ins Auge. Die Art, in der Bruegel sein Gemälde eingericht­et hat, bewirkt, dass die Aufmerksam­keit von dem Hauptereig­nis der Szene, die es beschreibt – also der Mann, der ertrinkt –, abgelenkt wird. Der Maler scheint uns etwas anderes zu zeigen. Das Wichtigste ist anderswo. Es ist eine äußerst zeitgenöss­ische Bildkompos­ition, die uns Bruegel bietet, eine Perspektiv­e wie von Godard, wie von Michael Haneke, wie von Chantal Akerman, jene versetzten, dezentrier­ten Perspektiv­en, die uns zwingen, genauer hinzusehen, wirklich hinzuschau­en. Diese Entscheidu­ng, die diversen Elemente des Bildes nicht zu hierarchis­ieren oder vielmehr sie spiegelver­kehrt zu hierarchis­ieren, sie widersprüc­hlich zu hierarchis­ieren – eine Perspektiv­e, die das Wichtigste in den Hintergrun­d rückt und dafür als Köder nebensächl­iche Details bringt, die dem wirklichen Verständni­s der Szene einen Riegel vorzuschie­ben scheinen –, all das zeugt von dem Vorhandens­ein eines Blicks von hinter der Kamera oder von hinter der Staffelei und verrät – im metaphysis­chen Sinne – das Vorhandens­ein eines Künstlers, einer Empfindsam­keit, eines innigen Verständni­sses der Welt.

Ist es nicht genau so im heutigen Leben? Macht uns der Alltag nicht blind? Muss man sich nicht herausreiß­en aus der Flut der Informatio­nen, die uns ununterbro­chen überschwem­mt, die Anstrengun­g vollbringe­n, wirklich hinzuschau­en? Die Männer auf dem Gemälde von Pieter Bruegel d. Ä., der Bauer, der sein Feld bestellt, der Schäfer, auf seinen Stab gestützt inmitten seiner Schafe, und sogar die so idyllische Natur – das Wasser, die Bäume, die Felsen –, das zeitlos stumme Meer, Zeuge so vieler Tragödien, sie alle scheinen sich nicht für das winzige Drama zu interessie­ren, das sich vor ihren Augen abspielt.

Weder die Männer noch die Natur fühlen sich betroffen. Ist es heute wirklich so anders? Wer schaut auf die Migranten die im Mittelmeer ertrinken, wer interessie­rt sich für sie, wer kommt ihnen zu Hilfe? Das Gemälde zeugt von der Gleichgült­igkeit der Allgemeinh­eit, ist es nicht immer noch aktuell? Der Ikarus auf dem Gemälde Bruegels ist ein Migrant. Er woll- te aus dem Gefängnis in den freien Himmel fliehen, nach dem es ihn so sehr verlangte. Der Ort, an dem er mit seinem Vater lebte, war unbewohnba­r geworden, sie träumten von einem unzugängli­chen Anderswo. Aber sie wussten, dass der Landweg blockiert war. Überall erhoben sich Mauern, Grenzen, Zäune, die ihnen den Weg versperrte­n. Es blieb ihnen nur der Weg durch die Luft. Das Meer überfliege­n und das Elend hinter sich lassen, welch schöne Idee!

Weg in eine bessere Zukunft

Am Ende kostspieli­ger und langwierig­er Vorbereitu­ngen, in deren Verlauf sie zwei riesige Flügel aus zusammenge­tragenen Vogelfeder­n anfertigte­n, die sie vom Boden aufgesamme­lt und mit Wachs zusammenge­klebt hatten, brachen Ikarus und sein Vater auf zu ihrem Exodus, begannen ihre Expedition über das Mittelmeer. Derart armselig gerüstet mit ihrem unstabilen Boot, schwangen sie sich auf, in der Hoffnung, den sicheren Hafen auf der anderen Seite zu erreichen. Mit ihren Glücksschw­ingen auf den Schultern machten sie sich eines Nachts auf den Weg in eine bessere Zukunft, die Augen voller Hoffnung, mit eingeschnü­rtem Herzen, unter Einsatz ihres Lebens.

Keiner hat etwas gehört

Wir kennen das tragische Ende der Geschichte. Wahrschein­lich hat der Vater seinen Sohn nicht ausreichen­d vor den Gefahren der Überquerun­g gewarnt. Oder war der Sohn, berauscht wie ein Vogel so zwischen der unbekannte­n Meeresgisc­ht und dem Himmel, zu übermütig und schließlic­h zu leichtsinn­ig? Hat Ikarus seine Not herausgesc­hrien, als er sich verloren sah? Wie soll man das wissen, ein Gemälde macht keine Geräusche. In den Museen hört man nicht das Pfeifen des Windes in den Ästen oder das Rauschen der Wellen, die auf den Felsen zerschelle­n.

Hört man dem Gemälde Bruegels zu, vernimmt man nichts, nicht das leiseste Zwitschern der Vögel, keinen Schrei, keinen Hilferuf. Aber ich bin mir sicher, selbst wenn die Malerei jene Geräusche von sich geben könnte, die die Gemälde in sich bergen und man sie in den Museen hören könnte, so wie man im Kino oder in der Oper hören kann, selbst dann wäre nichts zu hören von dem Gemälde Bruegels. Der Sturz des Ikarus geschieht in aller Stille. Er ist vom Himmel gefallen und ohne ein Geräusch im Meer untergegan­gen.

Keiner hat etwas gehört, niemand seinen Sturz bemerkt. Keine der Personen wendet den Kopf hin zu der Stelle, an der Ikarus ein letztes Mal vor dem Untergehen mit den Beinen aufs Meer schlägt. Ikarus stirbt in aller Stille, in der Gleichgült­igkeit der Allgemeinh­eit, wie so viele andere Flüchtling­e, die heute im zeitlosen Mittelmeer ertrinken, das ich vor meinen Augen habe.

 ??  ?? Der Autor Jean-Philippe Toussaint vor dem Bruegel-Gemälde „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“: Ist das Bild nicht immer noch aktuell, zeugt es nicht von der Gleichgült­igkeit der Gesellscha­ft?
Der Autor Jean-Philippe Toussaint vor dem Bruegel-Gemälde „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“: Ist das Bild nicht immer noch aktuell, zeugt es nicht von der Gleichgült­igkeit der Gesellscha­ft?

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