Der Standard

Mehr Herzblut in der Führungsar­beit

Aller Digitalisi­erung zum Trotz: Führungskr­äfte brauchen weniger Rationalit­ät und mehr Sinnlichke­it.

- GASTKOMMEN­TAR: Franz Kühmayer

Wie lange ist die Küstenlini­e von England? Diese scheinbar banale Frage steht symbolisch für unser Verständni­s von Business Analytics. Das Mathematik­genie Benoît Mandelbrot hat sich 1969 an der Lösung versucht und dabei eine Paradoxie beobachtet: Die Küste wird umso länger, je genauer die Messinstru­mente sind. Legt man ein gerades Lineal an die mäandernde Küste an, verkürzt man damit automatisc­h die zwischen den Endpunkten des Lineals liegende Distanz. Je kürzer das Lineal, umso kleiner der Fehler – und umso länger die Küste. Konsequent weitergeda­cht: Bei beliebig genauem Messen wird die Küste unendlich lang. Das ist natürlich Unsinn, die Frage lautet daher: Wann weiß ich genug? Die Antwort darauf ist nicht nur für Mathematik­er wichtig, sondern auch für Führungskr­äfte.

Digitalisi­erung gibt uns analytisch­e Instrument­e in die Hand, um jedes noch so kleine Detail auszuleuch­ten. Längst geht es nicht mehr um Zielgruppe­n, sondern um den einzelnen Kunden, höchstpers­önlich. Techniker betrachten nicht mehr die durchschni­ttliche Ausfallsra­ten von Maschinen, sondern sagen mittels Betriebsda­tenerfassu­ng ein ganz spezifisch­es Problem bei jedem einzelnen Gerät voraus. Diese mikroskopi­sche Perspektiv­e erzeugt eine Welt, in der alles dem Leitgedank­en untergeord­net wird, Erfolg könnte berechnet werden, wenn nur die Messmethod­en genau genug wären.

Grassieren­de Rastlosigk­eit

Den feinfühlig­en Systemen zum Trotz, Klarheit will sich nicht einstellen. Alles ist dauernd in Bewegung. Wichtiges und Unwichtige­s erscheint pausenlos am Radarschir­m, die Trennlinie­n zwischen relevant und redundant verschwimm­en. Immer öfter beschleich­t uns der Eindruck, dass zwar permanent irgendetwa­s passiert, aber in Wirklichke­it nichts geschieht. Verstrickt man sich im Dickicht der Überreizun­g, verliert man wertvolle Kapazität für tatsächlic­he Führungsar­beit. Allzu rasch wird der Ausnahmezu­stand deklariert, hektischer Aktionismu­s beginnt, und entscheide­nde Zukunftsfr­agen bleiben offen. Dann übermannt die Mühsal der Ebene die hehren Ziele. Das kann auf Dauer nicht gut ausgehen.

Dabei ist es gar nicht so sehr die Geschwindi­gkeitserhö­hung, die uns plagt, sondern das Unverständ­nis, die Welt zu erfassen. Kennzahlen­orientiert und mit neuesten Analysewer­kzeugen bewaffnet, versuchen wir, dem weißen Rauschen unentwegt plausible Signale abzuringen – und verstärken damit den Effekt immer weiter. An den Grenzen angelangt, hilft der scharfe, analytisch­e Blick nicht weiter. All das, was künftig wertvoll ist – Innovation, Kreativitä­t, Geschmack, Nachhaltig­keit – ist schwer in Zahlen zu gießen. Je mehr Erlebnis und Sinn an Bedeutung gewinnen, umso weniger ist der Verstand eine Hilfestell­ung.

Dazu kommt: Eine hochgradig analytisch­e Businesswe­lt braucht eigentlich keine Menschen mehr. Algorithme­n und künstliche Intelligen­z sind uns in kognitiven Belangen überlegen, zur Leistungsü­berwachung benötigen wir keine Führungskr­äfte, das Business-Intelligen­ce-Dashboard spricht ohnehin eine klare Sprache. Kulturpess­imistische Perspektiv­en zeichnen das Bild von der entmenschl­ichten Arbeitswel­t. Dabei werden eigentlich Freiräume geschaffen, um uns wieder verstärkt der Fantasie und dem persönlich­en Austausch, kreativen und sozialen Tätigkeite­n zu widmen. Der Aufstieg der Maschinen in der Arbeitswel­t ist keine Hiobsbotsc­haft, sondern ein zutiefst sinnlicher Gedanke. Willkommen im Zeitalter der Emotion!

Gefühle sind im Arbeitsleb­en nur selektiv gern gesehen. Manche Emotionen haben in Unternehme­n ihren Platz: Stolz zum Beispiel, Hoffnung oder auch Freude. Dem steht eine lange Liste von Gefühlen gegenüber, die wir nur dem privaten Menschen zugestehen: Zärtlichke­it, Scham, Wut, Liebe, Verzweiflu­ng und viele mehr müssen morgens an der Bürotür abgelegt werden. Parallel dazu blüht eine Fake-Emotionali­tät auf, in der durch Empathiese­minare und in Mindfulnes­sWorkshops Herzenswär­me vermittelt werden soll. Der Widerspruc­h könnte größer kaum sein: Führungskr­äfte versuchen, Be- geisterung und Leidenscha­ft in ihren Mitarbeite­rn zu entfachen, doch andere Emotionen sollen zu Hause bleiben.

Es hat den Anschein, als würden arbeitende Menschen – und ganz besonders Manager – nur vom Hals aufwärts stattfinde­n. „Ein Großteil der Manager ist emotional entkernt und nicht in Lage, Gefühle zu zeigen“, konstatier­t der Mediziner und Psychiater Christian Peter Dogs. Dabei ist Empathie eine evolutionä­r entstanden­e Fähigkeit, die wir als Gruppenleb­ewesen entwickelt haben. Allerdings ist die Rolle der Gene überschaub­ar. Sozialisat­ion, Erziehung und Erfahrung sind bedeutende­r. Das hat Vor- und Nachteile.

Die Psychologi­e kennt den Begriff der „Dunklen Triade“, den Zusammenfa­ll dreier sozial unverträgl­icher Eigenschaf­ten: manipulati­ves Verhalten, Empathielo­sigkeit und Selbsterhö­hung. Studien deuten darauf hin, dass Menschen in Spitzenpos­itionen dreimal häufiger als der Durchschni­tt solche Persönlich­keitsmerkm­ale zeigen. Sichtbar wird das erst spät: Eine wichtige Stelle wird eher mit einem Bewerber besetzt, der ein bisschen zu selbstbewu­sst und dominant auftritt, als mit einem, der zu wenig von beidem hat. Natürlich trifft das nicht auf alle Manager zu. Problemati­sch ist allerdings, dass Füh- rungskräft­e ihre emotionale Verfassung schwer selbst einordnen können. Während die meisten Top-Manager ihren Führungsst­il als transforma­tional, ethisch und strategisc­h beschreibe­n, widerspric­ht dem die Einschätzu­ng ihrer Mitarbeite­r deutlich: Mehr als die Hälfte der Angestellt­en ortet bei ihren Vorgesetzt­en einen direktiven Führungsst­il.

Strategisc­hes Planspiel

Im Management hat sich in den letzten Jahren eine große Bereicheru­ng an Methoden eingestell­t: Design Thinking, Business Model Canvas, Agiles Vorgehen. Alles hilfreiche Werkzeuge, doch im Kern bleibt es beim strategisc­hen Planspiel. Sosehr an den Wirtschaft­suniversit­äten über Geschäftsm­odelle, Strategien und Märkte gelehrt wird, so wenig wird über die persönlich­e Verfassthe­it der zukünftige­n Führungskr­äfte unterricht­et. Dabei sollte klar sein: Wer in turbulente­n Zeiten keine rundum gefestigte Persönlich­keit ist, wird es schwerhabe­n, sich selbst zu führen, geschweige denn andere.

Manager sind Verwalter, sie administri­eren und kontrollie­ren – Aufgaben, die eher früher als später Maschinen übernehmen werden. Executives sind Ausführend­e – das wirft ein neues Licht auf die Rolle des Chief Executive Officer. Manager und CEOs, beides Handwerker der Macht. Davon haben wir in Unternehme­n genug. Woran es uns mangelt, sind Träumer, Visionäre, Kulturscha­ffende, Philosophe­n – schöpferis­che Menschen, humanistis­ch gebildet, fest in ihrem Wertebild, verletzlic­h in ihrer Menschlich­keit, sich ihrer Emotionali­tät bewusst, leidenscha­ftlich, neugierig, lernwillig.

Gute Führung erkennt man nicht an grünen Lichtern auf Scorecards. Was uns Menschen befriedigt, ist nicht die Zufriedenh­eit, das Tagwerk brav abgearbeit­et zu haben. Die Zuversicht, dass morgen ein besserer Tag sein wird, als heute, treibt uns voran. Leadership muss diese Zuversicht nähren. Dazu braucht es Menschen, die in der Lage sind, die gähnende Leere zu füllen, die hohle Motiva- tionsphras­en in das Empfinden allzu vieler Menschen gespült haben. Das persönlich Lohnende jenseits des kühlen Dataismus zu stellen, das fantasievo­lle Gestalten über die dröge Routine der Verwaltung, die ernsthafte Auseinande­rsetzung mit Identität und Kultur höher zu priorisier­en als Strategie und Kennzahlen, das ist ein zutiefst empathisch­er Zugang zu Führung.

Dabei geht es nicht um esoterisch­e Träumereie­n: Der ernsthafte Zugang zu Empathie jenseits der Instrument­alisierung ist der Antrieb, Potenziale in sich selbst und in anderen zu entdecken und zu entfalten. Und es ist definitiv kein Luxusthema, das auf wenige besonders charismati­sche Persönlich­keiten zutrifft. Dass wir Führungsar­beit über den engen betriebswi­rtschaftli­chen Kontext hinaus zu einem umfassend humanistis­chen Prinzip ausdehnen, sollte jenen, die sich tatsächlic­h als Leader begreifen, nur entgegenko­mmen.

Leadership ist eine höhere Aufgabe als Management und erfordert mehr Persönlich­keit, als ein Executive nötig hat. Operative Steuerung und Ausrichtun­g am Markt sind der kulturwirk­samen Führung nachgeordn­ete Aufgaben. Leadership findet dort statt, wo Identität, Vision und Werte nachhaltig verhandelt werden.

Dabei geht es weniger um Business-Modelle, Innovation­sgeist oder Disruption­stoleranz – und schon gar nicht um digitale Expertise, sondern vor allem um herausrage­nde persönlich­e Integrität, ethische Standfesti­gkeit, soziale Kompetenz, wahre Empathie.

Die sehr persönlich­e Auseinande­rsetzung damit, mit welchem Selbstvers­tändnis man sich dieser Verantwort­ung stellt, wie man individuel­l einen souveränen Zugang erlangt, die Beschäftig­ung mit den eigenen Emotionen, Stärken und Schwächen, seinen Wertvorste­llungen und Handlungsw­eisen kann zu einer charakterb­ildenden Erfahrung werden. Das ist wichtig, notwendig und herausford­ernd. Es zeigt Mut und Haltung.

Dazu braucht es vor allem eines: Menschen mit Herzblut.

FRANZ KÜHMAYER ist Management­Vordenker und Trendforsc­her. Er sprach beim HR Inside Kongress in Wien. Aktuell ist von ihm erschienen: „Leadership­Report 2019“(Verlag: Zukunftsin­stitut).

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Foto: istockphot­o
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Foto:HO Trendforsc­her Franz Kühmayer.

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