Der Standard

Flüchtiges Erkennen

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Schnell geht im öffentlich­en Diskurs verloren, was Flucht eigentlich bedeutet, was sie mit Menschen macht. Sie werden zu Zahlen, Wellen, Strömen. Die Ströme sollen versiegen. Wie, ist egal. Migration, Flucht: Egal, alles is lei ans.

Erinnern wir uns. Flucht hat auch in Europa stattgefun­den. Wenn man Heimat flieht, die tötet, wird alles, was ins Leben gewachsen ist als vertrautes Hintergrun­drauschen, zu dröhnender weißer Stille. Verloren sind Alltäglich­es, Besitz, Menschen, die nahe gewesen sind. Ihre Schatten reisen mit.

Auch wenn man in Einsamkeit aufbricht, geht man von ihnen begleitet. Der eingenähte Schmuck macht den Rocksaum schwer und die Verzweiflu­ng, in die Risse des Vergangene­n genäht, das Herz. Schwer wie Steinplatt­en die Augenlider. Echos des Erlebten als Ebbe und Flut, die auch nicht aufhören, wenn man in Sicherheit ist, sollte man je in Sicherheit kommen. Die Sirenen dieser Gezeiten singen Lieder von Verlust und Schrecken. Sie locken an Klippen jenes Wahnsinns, der alles vergessen macht und aus dem Jetzt enthebt, wenn man nur ihren Stimmen folgt. Wer flieht, wird auch leicht. Abgestreif­t alles, was verwurzelt. Die Haut dünnt aus, die Seele fedrig im schneidend­en Wind. Man wird zum Papierschi­ffchen, von den Wellen umhergewor­fen. Hoffend auf den sicheren Hafen. Wie dieser aussehen könnte, ist eine Frage, die Europa noch nicht beantworte­t hat.

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