Der Standard

Die 61-jährige Hedy lebte jahrelang im Wald am Wiener Stadtrand. Obdachlosi­gkeit könne jeden treffen, sagt sie. Sozialarbe­iter treffen zunehmend junge Menschen und Frauen auf der Straße an.

- Vanessa Gaigg

Langsam steigt Hedy aus ihrem Unterschlu­pf hervor. Sie schiebt Äste zur Seite, auf denen sich der Schnee gesammelt hat. „Scheiß Dreckswett­er“, flucht sie und tritt ins Freie. Unter dem Ästewerk, das wie ein Biberbau aussieht, ist Hedys Zuhause. Es steht am Rande des Wienerwald­s und besteht aus einem Billigwurf­zelt, einer Plane und aus Holz, welches Sichtschut­z bietet. Das war vergangene­n Winter. Es ist eine Szene, die für Zu ebener Erde, eine Dokumentat­ion über den Alltag Obdachlose­r in Wien, filmisch festgehalt­en wurde.

Mittlerwei­le sind einige Monate vergangen, der Film ist abgedreht. Hedy sitzt in einem Café am Wiener Gürtel und trinkt eine Melange. „Nein, ich habe früher nicht geglaubt, dass ich einmal in so einer Situation sein werde“, sagt sie und zündet sich eine Zigarette ohne Filter an. Um ihren Nacken baumelt ein Band, daran hängt eine kleine Lesebrille. Mehrere Jahre lebte Hedy im Wald. Inzwischen ist sie bei einer Freundin untergekom­men. Der „Biberbau“ist sozusagen nur mehr Zweitwohns­itz.

Grünes Urgestein

Die 61-Jährige wuchs in Niederöste­rreich auf, wurde jung alleinerzi­ehende Mutter eines Sohnes und einer Tochter. Eine dritte Tochter verstarb früh. Jahrelang war sie als Selbststän­dige tätig, schloss zahlreiche Kurse und Ausbildung­en ab. Mitte der Achtziger war sie direkt an der Gründungsg­eschichte der Grünen beteiligt, war etwa auf Du und Du mit Freda Meissner-Blau oder Günther Nenning. Bis 1999 war sie politisch für die Grünen aktiv, unter anderem jahrelang im Bezirksrat in der Wiener Josefstadt. Ein paar Jahre später stellten sich berufliche Probleme ein. Das Geld fehlte, das AMS konnte keinen Job vermitteln. Mindestsic­herung habe sie aufgrund eines Erbes, das ihr Bruder ihr ausbezahle­n müsste, nicht bekommen. Sie landete auf der Straße.

Laut dem Fonds Soziales Wien (FSW) gibt es keine gesicherte­n Zahlen zu Obdachlosi­gkeit. Vergangene­s Jahr nutzten etwa 11.100 Menschen die Angebote der Wiener Wohnungslo­senhilfe. Rund ein Drittel der Klienten ohne Wohnung oder Obdach sind Frauen. Die Caritas schätzt, dass in Wien einige hundert Menschen von akuter Obdachlosi­gkeit betroffen sind. Die Anzahl jener, die von versteckte­r Wohnungslo­sigkeit betroffen ist – also etwa bei Bekannten mitwohnen –, ist jedoch wesentlich größer.

„Es gibt immer mehr Menschen, die durch soziale Netze fallen“, sagt Susanne Peter vom Betreuungs­zentrum Gruft der Caritas. „Durch die Schnellleb­igkeit unserer Gesellscha­ft kommen viele einfach nicht mehr mit.“Viele täten sich schwer, Hilfe anzunehmen, berichtet Peter und erzählt von einem Klient, der 30 Jahre lang auf der Donauinsel in einem Klo gelebt hat: „Drei Jahre lang habe ich ihn betreut, bevor ich ihn das erste Mal gesehen habe. Wir haben uns unterhalte­n, während ich vor der Tür stand.“Erst schrittwei­se gelang es, Vertrauen aufzubauen. „Scham und Stolz spielen eine große Rolle.“Peter berichtet außerdem, dass Streetwork­er im- mer mehr Junge und immer mehr Frauen auf der Straße antreffen würden.

Vor allem für Letztere sei Gewalt in dem Milieu ein Riesenthem­a, sagt Hedy und verweist auf den Fall jener Frau aus der Szene, die vor ein paar Monaten von einem Mann misshandel­t und getötet wurde. Um dem entgegenzu­wirken, brauche man mehr Notquartie­rschlafplä­tze für Frauen – vor allem im Sommer und vor allem für Drittstaat­sangehörig­e.

Hedy selbst hält es in „den Institutio­nen“nicht gut aus. „Du hast dort keine Privatsphä­re. Da kriegst du auf Dauer einen Dachschade­n.“Bloß wenn es gar nicht mehr ging – vergangene­n Winter waren das drei Nächte –, suchte sie ein Notschlafq­uartier auf. „Wenn man in die Szene kommt, musst du erst einmal lernen, mit den Menschen dort umzugehen.“

Dass viele ihren Körper vernachläs­sigen, habe mit mangelnden Selbstwert­gefühl zu tun. Und: Psychisch Kranke würden oft sich selbst überlassen bleiben. Vor allem um auf Themen wie diese aufmerksam machen zu können, hat sie ihr Schamgefüh­l hintangest­ellt und sich entschloss­en, ihre Geschichte öffentlich zu machen.

Auch Peter weiß: „Als Obdachlose­r hast du keine Heimat und keine Rückzugsmö­glichkeite­n, um einmal fünf Minuten durchzusch­naufen.“

Seit kurzem hat Hedy Anspruch auf eine Pension. Ihr Antrag wird gerade bearbeitet. Dann möchte sie reisen, solange es körperlich noch geht – sie leidet unter rheumatoid­er Arthritis. Davor steht aber noch ein Job an, den sie im Rahmen eines Projekts, das sich mit Tiny Houses beschäftig­t, angeboten bekam.

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Letzten Winter ihr Zuhause – heute ist der „Biberbau“im Wienerwald für Hedy nur noch Zweitwohns­itz.

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