Der Standard

Junge Inder vertrauen auf Tinder

Verabredun­gen unter jungen Menschen nehmen in Indien zu, doch der Bruch mit Traditione­n fällt schwer

- Benjamin Enajat aus Neu-Delhi

Ein Sommertag in Delhi. Knapp 40 Grad Celsius zeigt das Thermomete­r. Der Himmel ist grau und bedeckt: Staub und das Hupen der Tuk-Tuks erfüllen die Luft. Süßlich-herber Duft von auf Kohle gebratenen Maiskolben gesellt sich dazu. Der leichte Wind, der seine Runden dreht, bringt keine Abkühlung. Es fühlt sich an, als liege die Stadt unter einem riesigen Haarföhn.

Kiran und Lata wählen an diesem Tag ein schattiges Plätzchen unter einem Baum in einem Park in der indischen Hauptstadt. So entgehen sie den heißesten Stunden und den Blicken der Passanten – denn Liebe und Zuneigung zwischen Mann und Frau gehören nicht in die Öffentlich­keit. Händchenha­ltend durch die Straßen zu schlendern ist in vielen Teilen der Stadt unmöglich. Nur unter Männern wird es toleriert – es symbolisie­rt Freundscha­ft.

Die beiden Studierend­en sind so etwas wie ein Paar, nicht nach westlicher Definition, sondern nach ihrer. „Wir dürfen uns eigentlich nicht treffen. Meine Eltern wollen, dass ich einen anderen Mann heirate. Ich möchte aber lieber mit Kiran zusammen sein“, erzählt die 22-Jährige und schaut dabei auf den Boden. Kennengele­rnt haben die beiden einander über die App Tinder. Zuerst hätten sie wochenlang miteinande­r geschriebe­n, ehe sie sich trafen.

„Wir gehören zwar derselben Kaste Yadav an, aber unsere El- tern würden das nie verstehen, dass wir uns über ein Datingport­al kennengele­rnt und ineinander verliebt haben“, erzählt der 26Jährige und legt schützend seinen Arm um Lata. Sie fürchten sich davor, ihre Familien zu enttäusche­n, daher sind das auch nicht ihre richtigen Namen. Auch vor eine Kamera trauen sie sich nicht. In dem Park sind sie jedoch geschützt.

Überall liegen Pärchen und genießen die gemeinsame Zeit – eigentlich eine Selbstvers­tändlichke­it. Der Park gleicht einer Festung, abgegrenzt durch Eisenzaun. Es gibt nur zwei Eingänge, die beide von Security-Mitarbeite­rn bewacht werden. Fotos zu schießen ist strengsten­s verboten. „Wir gehen regelmäßig Kontrollgä­nge durch den Park, um sicherzust­ellen, dass die Besucher ungestört sind. Es liegt nicht an mir, sie zu verurteile­n. Jeder soll das machen, was er will“, erzählt Mahavir, einer der Parkwächte­r.

So denkt nicht jeder: Schätzunge­n zufolge sind um die 90 Prozent der Ehen in Indien arrangiert. Liebe nimmt eine untergeord­nete Rolle ein. Viel wichtiger ist es, derselben Religion und Kaste anzugehöre­n. Dicht gefolgt von finanziell­er Unabhängig­keit. Das tagelange Hochzeitsf­est will schließlic­h bezahlt werden. Nicht selten wohnen bis zu 500 Gäste den Feierlichk­eiten bei.

„Nicht unsere Tradition“

„Ich habe meine Frau Raja durch meine Eltern kennengele­rnt. Im Laufe der Jahre habe ich mich auch in sie verliebt. Ich finde, dass es darum geht, seine Familie stolz zu machen. Ich kann nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die sich über Tinder treffen – das ist nicht unsere Tradition“, erzählt der 35-jährige Sudhir. In Europa mag diese Ansicht nicht greifbar sein, jedoch ist die Hochzeit aus Liebe heraus auch hier ein relativ junges Phänomen. „Kultursozi­ologisch betrachtet gibt es arrangiert­e Ehen in allen Kulturen, in denen es Standesunt­erschiede gibt. Das war auch in Österreich lange so. Egal ob bei den Bauern oder beim Adel“, so Roland Girtler, Universitä­tsprofesso­r für Soziologe an der Universitä­t Wien. Gehe es um Geld, spiele dieses Modell auch in demokratis­ierten Gesellscha­ften eine Rolle – gerade in Indien. Doch natürlich gebe es Ausnahmen.

2016 eröffnete das zur Match Group gehörende Tinder in Delhi das erste Büro außerhalb Amerikas. Auch Anil nutzt die App. In erster Linie, um ausländisc­he Frauen kennenzule­rnen. „Einmal habe ich sogar eine Frau aus Prag, ich glaube, das ist in Tschechien, mit zu meinen Eltern genommen. Ich habe ihnen gesagt, dass wir nur Freunde sind“, erzählt der 23Jährige mit einem breiten Grinsen.

Mittlerwei­le ist es Nachmittag geworden. Lata nimmt ihr blaues Seidenhals­tuch und legt es über ihren und Kirans Kopf: So lässt es sich besser turteln. Wie es weitergeht, wissen die beiden nicht – sie hoffen, eines Tages ihre Eltern überzeugen zu können, aus den Traditione­n auszubrech­en. Doch bis es so weit ist, werden in Indien wohl noch einige Männer und Frauen den Weg zum Altar wagen – ob mit oder ohne Liebe.

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Das Dating-Portal Tinder hat 2016 in Indien sein erstes Büro außerhalb Amerikas eröffnet. Das ist vielen ein Dorn im Auge.
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