Sphinx mit Kartoffelsuppe
Es braucht „Rautenkunde“, um Merkel zu verstehen
Korrespondenten, so heißt es, haben den tollsten Job von allen Journalisten. Sie reisen durch fremde Länder, lernen andere Bräuche kennen und müssen sich nicht durch endlose Sitzungen in der Zentralredaktion quälen. Nun ja.
In der Realität heißen die Reiseziele Chemnitz oder Messe Hannover, erreichbar mit der Straßenbahnlinie 8. Und mit der Brandenburger Vorliebe, jegliches Essen mit brauner Soße zu übergießen, mag man sich irgendwann nicht mehr näher befassen.
Aber meist ist der Dienstort ohnehin Berlin, genauer gesagt Regierungsviertel, ganz präzise: ein kleines Büro, genannt „Hasenstall“, im Haus der Bundespressekonferenz, wo die sogenannten Hauptstadt-Journalisten sitzen.
Wir alle haben seit 13 Jahren einen harten Job. Er heißt, Angela Merkel – im Idealfall – zu verstehen, meistens aber sie eher zu interpretieren. Die Alten, zu denen auch die Schreiberin dieser Zeilen zählt, erinnern sich noch an ihren Vorgänger Gerhard Schröder. Er war ein Mann von bestechender Schlichtheit. Wenn er grantig war, wussten es alle. Wenn er „Basta“sagte, gab es keine Deutungsmöglichkeiten.
Jubel nur im Fußballstadion
Merkel, die Sphinx, die nur im Fußballstadion jubelt und für alle Gelegenheiten außerhalb die Raute erfunden hat, ist anders. Jetzt wäre es natürlich einfacher, wenn man sie einmal fragen könnte: „Hey, wie geht’s? Gibt’s heute Abend wieder die selbstgestampfte Kartoffelsuppe? Wo ist das türkise Jackett her?“Abgesehen davon, dass man die Antworten ahnt, ist derlei schlicht unmöglich.
Medien und Merkel, das ist ein ganz eigenes Kapitel. Die Kanzlerin gibt nicht gerne Pressekonferenzen. Eine große, bei der sie sich 90 Minuten alles fragen lässt, aber auf längst nicht alles antwortet, findet nur einmal pro Jahr, im Sommer, statt. Gelegentlich bittet sie nach einem Gipfel (Diesel, Wohnen) ins Kanzleramt, aber die Zeit für Fragen ist immer zu kurz, und die Fragesteller wählt der Regierungssprecher aus.
Kommt ein Staatsgast zu Besuch, sind bei der obligatorischen Begegnung mit der Presse maximal drei Fragen für die „deutsche Seite“und ebenso wenige für die Gäste zugelassen, was HauptstadtJournalisten zu kreativen Höchstleistungen antreibt.
Wohl nirgendwo ist die Kunst, in einer Frage eigentlich mindestens fünf Fragen zu zehn Themenfeldern unterzubringen, so ausgeprägt wie in Berlin. Überflüssig zu erwähnen, dass die Antworten oft unbefriedigend sind.
Zur Not ins Fernsehen
Wenn ihre Not (etwa während der Flüchtlingskrise) groß ist und sie das Gefühl hat, sich erklären zu müssen, lässt Merkel sich im Fernsehen interviewen, ansonsten hält sie lieber Reden. Da gibt es am Schluss Applaus statt Fragen. Aussichtslos sind auch Versuche, ihr auf Zuruf etwas zu entlocken, wenn sie mit ihrem Tross aus Security und Beratern irgendwo erscheint. Sie hört die Frage nicht oder will sie nicht hören.
Daher hat sich in Berlin eine Disziplin entwickelt, die sich am besten mit dem Begriff „Rautenkunde“beschreiben lässt. Über die Jahre, unter gleichzeitiger Einbeziehung von Tonfall, Blick und natürlich Rhetorik, gelingt es immer besser, Merkel zu übersetzen und die drei Grundbefindlichkeiten zu erfassen.
„Ich finde es gut, wenn ...“heißt so viel wie: Super, taugt mir total, das Problem haben wir gelöst, ich habe eh noch genug andere mit Donald Trump. „Ich denke, wir sollten aufpassen, dass ...“lässt sich übersetzen mit: Seid ihr so wahnsinnig wie die SPD, das kann man doch nicht machen! Und „Wir müssen abwarten, ob ...“ist ein klares: Bitte, nicht nerven, da habe ich noch keine Meinung, weil ich erst einmal warte, wohin Wind und Umfragen drehen.
Irgendwann wird sie uns sagen, dass ihre Zeit abgelaufen ist und sie nicht mehr weitermacht. Das vermutlich werden alle verstehen.
BIRGIT BAUMANN ist seit 2005 Deutschland-Korrespondentin. Im selben Jahr zog Angela Merkel ins Berliner Kanzleramt ein.