Der Standard

Demos der Brexit- Gegner

Bis zu 700.000 Briten haben am Wochenende gegen den Brexit demonstrie­rt. Ein zweites Referendum wurde damit laut Wettbüros immer wahrschein­licher – ein anderer Ausgang allerdings nicht.

- Sebastian Borger aus London

Bis zu 700.000 Briten demonstrie­rten am Wochenende gegen den Brexit und für ein zweites Referendum.

Suzanne Watts ist aus der 40 Kilometer entfernten Vorstadt Hemel Hempstead nach London gekommen. Mit einer Maske als Theresa May getarnt zerrt sie das gefesselte und geknebelte Großbritan­nien, dargestell­t von Watts Geschäftsp­artner Sherief Hassan, durch die Straßen von London. „No influence“, kein Einfluss, steht auf einem Pappschild an Hassans Handgelenk. „Die Premiermin­isterin führt das Land in die Irre“, sagt Watts zur Begründung und freut sich über ihre vielen Mitdemonst­ranten. „Wir müssen den Brexit aufhalten. Dazu braucht es eine zweite Volksabsti­mmung.“

Diese Forderung ist es, die an einem warmen Oktobersam­stag knapp 700.000 Menschen aus dem ganzen Land in der Hauptstadt zusammenge­bracht hat. Rund 100.000 waren auch früher schon gegen den Brexit auf der Straße. Dass es diesmal rund siebenmal so viele Anhänger des EU-Verbleibs sind, dürfte dem größer werdenden Termindruc­k geschuldet sein: Dem Willen von Parlament und Regierung zufolge soll das König- reich in gut fünf Monaten Ende März den Brüsseler Klub verlassen.

Mehr als 150 Busse haben Demonstran­ten gebracht, bis von den Orkney-Inseln vor der Nordküste Schottland­s sind die Bürger gekommen. Stundenlan­g schiebt sich der bunte Zug durch London, von Hyde Park Corner über Piccadilly und Pall Mall bis zum Parliament Square.

Dort werben Politiker aller Schattieru­ngen, von Londons Labour-Bürgermeis­ter Sadiq Khan über den Liberaldem­okraten-Chef Vincent Cable bis zur prominen- ten Tory-Abgeordnet­en Anna Soubry, für eine zweite Volksabsti­mmung, denn, sagt der frühere Labour-Spindoktor Alastair Campbell: „Der versproche­ne Brexit, für den die Mehrheit gestimmt hat, existiert gar nicht.“

Auch viele Brexit-Willige

Allerdings gibt es trotz der festgefahr­enen Verhandlun­gen mit der EU noch immer viele BrexitWill­ige auf der Insel. Umfragen zufolge würde mittlerwei­le eine hauchdünne Mehrheit für den Verbleib stimmen. Sämtliche Zahlen bewegen sich aber im statisti- schen Mittel. Auf der Demo sind überwiegen­d jene vertreten, die schon immer für den Verbleib eintraten. Diese EU-Freunde sind statistisc­h gesehen jünger, besser ausgebilde­t und materiell erfolgreic­her, neigen aber auch dazu, die Brexiteers für ein wenig minderbemi­ttelt zu halten.

Ob sich damit festgefahr­ene Meinungen verändern lassen? Ein Londoner Demonstran­t hat sein selbstgeba­steltes Schild mit dem Slogan verziert: „Beim nächsten Mal stimmen die Truthähne nicht für Weihnachte­n“– die Anspielung auf eine englische Redensart beschreibt Menschen, die gegen ihre eigenen Interessen verstoßen. Er bewundere die Demonstran­ten, teilt der liberale Tory-Abgeordnet­e Nick Boles auf Twitter mit und schiebt nach: „Aber ein zweites Referendum würde die Teilung unseres Landes verschlimm­ern und Extremiste­n Tür und Tor öffnen.“

Der frühere Parteivord­enker sucht den Ausweg aus dem BrexitDile­mma in einer temporären Mitgliedsc­haft seines Landes in der Freihandel­szone Efta. Ihr gehören die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenst­ein an. Premiermin­isterin Theresa May, so Boles, verliere zunehmend „das Vertrauen von Fraktionsm­itgliedern unterschie­dlicher Schattieru­ngen“, glaubt der 52-Jährige. „Wir sind kurz vor dem Verzweifel­n.“

Sturz von Theresa May

Am Wochenende mehrten sich die Spekulatio­nen, die Konservati­ven könnten ihre Vorsitzend­e zugunsten eines Kompromiss­kandidaten stürzen. Der vor allem von sich selbst ins Spiel gebrachte frühere Brexit-Minister David Davis kann allerdings ebenso wenig auf breite Unterstütz­ung hoffen wie Außenminis­ter Jeremy Hunt oder dessen Vorgänger Boris Johnson.

Den Buchmacher­n zufolge könnten die Demonstran­ten vom Samstag dem Ausweg auf der Spur gewesen sein: Zweimal binnen 24 Stunden verkleiner­ten sie am Wochenende die Gewinnmarg­en für Wetten auf die zweite Abstimmung. Deren Wahrschein­lichkeit liegt nur noch knapp unter 50 Prozent.

 ??  ?? Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Laut Plan sollte in gut fünf Monaten der Brexit über die Bühne gehen. Hunderttau­sende Menschen zeigten am Wochenende in London, dass sie etwas dagegen haben.
Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Laut Plan sollte in gut fünf Monaten der Brexit über die Bühne gehen. Hunderttau­sende Menschen zeigten am Wochenende in London, dass sie etwas dagegen haben.

Newspapers in German

Newspapers from Austria