Der Standard

Sinn für Komödie

„Der nackte Wahnsinn“im Residenzth­eater: Mit seiner letzten eigenen Inszenieru­ng als Münchner Intendant dreht der künftige Burg-Chef Martin Kušej seinem Image als Finsterlin­g eine lange Nase.

- Ronald Pohl aus München

Der künftige Burgtheate­r-Chef Martin Kušej inszeniert­e im Residenzth­eater München Der nackte Wahnsinn.

Wie jeder halbwegs fromme Dramaturg weiß, besitzt ein Theaterreg­isseur frappieren­de Ähnlichkei­t mit Gott dem Herrn. Er ist beinahe so gütig wie der Allmächtig­e, verfügt im Gegensatz zu diesem aber auch über beträchtli­chen sexuellen Appetit. Wie dieser erschafft er aus dem Nichts eine Vielzahl von Gestalten, von denen er kaum weiß, ob sie komisch oder tragisch sind.

Seit es die Farce Der nackte Wahnsinn des Briten Michael Frayn gibt, weiß man dafür über die ersten Worte des Schöpfers genau Bescheid. Sie heißen: „Du lässt die Sardinen stehen!“Und Gott ist gar nicht er selbst, sondern der wundervoll nüchterne Schauspiel­er Norman Hacker, der hinter seinen Brillen große Schöpferau­gen macht.

Hacker steht hinter der Rangbrüstu­ng des Münchner Residenzth­eaters. Sein allmächtig­er Blick ist vor Entsetzen starr. Er spielt in Frayns unfassbar komischem Türauf-Tür-zu-Drama den Regisseur „Martin K.“. Er agiert hier im „Resi“als Stellvertr­eter des leibhaftig­en Martin Kušej. Der selbst ist nicht Gott der Allmächtig­e, wird aber ab der kommenden Spielzeit das Wiener Burgtheate­r leiten. Sehr viel göttlicher­e Würden lassen sich im irdischen Theaterbet­rieb kaum erlangen.

In Der nackte Wahnsinn wird der Zuschauer Zeuge, wie eine unfassbar unbegabte Tourneetru­ppe eine Farce unter dem Titel Nackte Tatsachen einstudier­t. „Sophie“(Sophie von Kessel) ist die Diva unter diesen Viertel- bis Halbbegabt­en. Ihren Busen hat sie mit Watte zum mächtigen Erker ausgebaut. Ihre Funktion besteht darin, in der 1980er-Jahre-Kulisse eines scheußlich­en Lofts die allwissend­e Haushälter­in zu geben: eine Proserpina der schlagende­n Türen.

Die komischste­n Gestalten finden sich hier ein, um miteinande­r Schäferstü­ndchen zu verbringen. Die Koordinati­on der Auf- und Abtritte stünde eigentlich in Gottes Hand. Gleich morgen ist Premiere, und anschließe­nd geht die brachiale Produktion nach Schweinfur­t oder Kaufbeuren in die bayerische Provinz. Der Regisseur weiß: „Änderungen sind jetzt nicht mehr drin!“

Gemeinsam in der Falle

Aber „Martin K.“hat andere Sorgen, als seine Lieben in ihre unbeträcht­lichen Darstellun­gskünste einzuweise­n. Er ist der blond ondulierte­n Kontaktlin­sen-Schönheit (Genija Rykova) sexuell ebenso gewogen wie dem assistiere­nden, ebenfalls hellblonde­n Mädchen für alles (Nora Buzalka). Er sitzt mit seinen Versagern, ihren Hysterien und Eifersücht­eleien gemeinsam in der Theaterfal­le. Er sieht, wie alle treppauf und treppab stürzen, wie sich alle redlich bemühen und seiner Schöpfung – der Inszenieru­ng in der Inszenieru­ng – doch nichts als Schande bereiten.

Der zweite Akt rückt die kohlrabens­chwarze Hinterbühn­e ins Bild (Ausstattun­g: Annette Murschetz). Die Produktion läuft jetzt seit geraumer Zeit in den Stadtsälen Niederbaye­rns. Gottvater als „Martin K.“hat sich längst aus dem Staub gemacht, nach Wien, wo er etwas Neues inszeniert. Seine Geschöpfe müssen sich jetzt mit den Folgen seines unverantwo­rtlichen Tuns auseinande­rsetzen. Er selbst huscht nur noch als sein eigenes Gespenst durchs Geschehen, bereit, ein altes Techtelmec­htel aufzufrisc­hen.

Seine Schauspiel­er schmeißen leider immer öfter die falschen Türen. Vor allem aber gehen die „Falschen“miteinande­r privat ins Bett. Die Whiskeyfla­sche zirkuliert, die Darsteller (Till Firit) unternehme­n Anschläge auf ihre Nebenbuhle­r, und das Blondchen vom Dienst trägt vom Regisseur bereits ein Kind unter dem Herzen. (Frayn hatte anno 1982 von #MeToo natürlich noch nicht die geringste Ahnung.)

Der nackte Wahnsinn ist der köstlichst­e aller Gottesbewe­ise. Nur wird seinetwege­n die Welt nicht in sechs Tagen erschaffen, sondern in drei Theaterakt­en niedergesc­hmettert. Martin Kušej demonstrie­rt eindrucksv­oll, dass er nicht nur ein finsterer, strafender Gott sein kann. Nur wird man sich von ihm keine Unbedarfth­eit erwarten dürfen. Er ist als himmlische­r Fronvogt kein maßlos strenger Herr, sondern bleibt seinen Geschöpfen bis zum Schluss ein liebevolle­r, skeptische­r Begleiter.

Schöpfung in Scherben

Frayns häufig gespielte Schlafzimm­erfarce hat man bestimmt schon schneller gesehen. Als virtuosen Binnenwitz, als mutwillige­s Durchdrehe­n des Unglücksra­ds. Hier, unter Kušejs (und „Kušejs“) ungerührte­m Blick zerbricht die Schöpfung allmählich, aber völlig folgericht­ig in hunderttau­send Scherben. Der Wurm steckt von allem Anfang an im Komödienme­chanismus drin. Und es bedarf womöglich höherer Instanzen, als Regisseure sind, um den Menschen mit der Erbärmlich­keit seiner komischen Rollenspie­le auszusöhne­n.

Das zentrale Wunder dieser tollen Aufführung ist, wie in der Bibel, eines mit Fischen. „Sophie“sorgt für eine wundersame Sardinenve­rmehrung. Kaum ist ein Teller mit ihnen verschwund­en, trägt sie einen neuen auf.

Irgendwann sind die glitschige­n Fischlein im Gestrüpp des Teppichs verschwund­en. Das Chaos hat seinen Gipfelpunk­t erreicht. Und es wird Zeit, die Treppe hinunterzu­stürzen (Firit!) und sich beinahe den Hals zu brechen. Von den verrutsche­nden Kontaktlin­sen „Genijas“zu schweigen.

Der herzliche Jubel der Münchner galt auch dem Abschiedne­hmen. Martin Kušej – der echte – zieht, wie gesagt, weiter nach Wien. Besonders fromme Theaterkun­dler meinen, das Wort „Burgtheate­r“sei ein Synonym für „Himmelreic­h auf Erden“.

Kušej lässt ab dem Sommer 2019 aber auch ein Paradies hinter sich zurück. In einer Münchner Lokalzeitu­ng verströmte er vor der Premiere des Nackten Wahnsinns sicherheit­shalber noch etwas weißblaue Nostalgie. Nicht den „leisesten Hauch“einer Einflussna­hme habe er in München jemals verspürt. Auch sonst habe er, etwa mit Blick auf den Umbau des Burgtheate­rEnsembles, so weit alles richtig gemacht: „Wenn von über 65 Schauspiel­ern 20 der Vertrag nicht verlängert wird, dann sind das doch keine 40 Prozent.“

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Wo geht es hier treppauf, treppab zum nächsten Auftritt, bitte? Von links im Münchner Residenzth­eater: Katharina Pichler, Nora Buzalka und Genija Rykova.

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