Regierungsjuristen halten Kassenreform für verfassungswidrig
Verfassungsdienst: Weisungsrecht für Ministerium gefährdet Selbstverwaltung
– Kritiker gehen mit der Regierungsvorlage zur Fusion der Sozialversicherungen hart ins Gericht – darunter auch der Verfassungsdienst der Bundesregierung, der im Justizministerium angesiedelt ist. Im VP-FP-Entwurf erhält das Sozialministerium ein Weisungsrecht für den Dachverband, der künftig den Hauptverband der Sozialversicherungsträger ersetzen soll. Das werten die Verfassungsjuristen als verfassungswidrigen Eingriff in die Selbstverwaltung. Denn als Selbstverwaltungskörper hätte dieser das „Recht, Aufgaben in eigener Verantwortung frei von Weisungen zu besorgen“.
Scharfe Kritik kommt auch von den von den Fusionsplänen betroffenen Gebietskrankenkassen – sie sollen künftig in einer Kasse, der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), aufgehen. Auch die Gebietskrankenkassen fühlen sich in ihrem Recht auf Selbstverwaltung eingeschränkt. Die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse stützt sich dabei auf Gutachten des früheren Verfassungsrichters Rudolf Müller. Für ihn ist die paritätische Besetzung des Verwaltungsrats der ÖGK verfassungswidrig. Wenn künftig sowohl sechs Dienstgeber als auch sechs Dienstnehmer im Verwaltungsrat vertreten seien, könne kein Beschluss gegen die Interessen der Dienstgeber getroffen werden. Dadurch würden die Dienstnehmer in ihrem Recht beschnitten werden, ihre Gesundheitsversorgung selbst zu organisieren. Die Interessen der Arbeitgeber würden übermäßiges Gewicht erhalten.
Auch der Hauptverband und der Rechnungshof meldeten Bedenken gegen die geplante Reform an. Für Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) ist die Kritik nicht nachvollziehbar. Er vermutet hinter den negativen Stellungnahmen die Sorge der Funktionäre, an Einfluss zu verlieren. (red)
Die türkis-blaue Regierung hat es eilig. Am Freitag endete die Begutachtungsfrist für das Sozialversicherungsgesetz. Zentrales Anliegen ist die Fusion der neun Gebietskrankenkassen zu einer, der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Am Mittwoch soll die Materie im Ministerrat beschlossen werden. Erste Änderungen sollen bereits am 1. Jänner in Kraft treten.
Hauptverband und Gebietskrankenkassen haben keine Freude mit den Regierungsplänen und stützen sich dabei auf Gutachten prominenter Verfassungsrichter. Aber auch insgesamt fallen die Reaktionen eher verhalten aus, 75 Stellungnahmen zu dem Gesetzesentwurf sind im Parlament eingegangen. Besonders vernichtend fallen die Stellungnahmen von Rechnungshof und Verfassungsdienst aus.
In welcher Form und ob die Kritikpunkte eingearbeitet werden, ist offen. Das liege in der Hand des Sozialressorts, erklärte Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP). Die heiklen Punkte im Überblick:
Mehr Einfluss für Ministerien Laut türkis-blauem Entwurf erhält das Sozialministerium ein Weisungsrecht für den Dachverband, der künftig den Hauptverband der Sozialversicherungsträger ersetzen soll. Hier sieht der Verfassungsdienst des Justizministeriums einen Eingriff in die Selbstverwaltung. Als Selbstverwaltungskörper hätte dieser das „Recht, Aufgaben in eigener Verantwortung frei von Weisungen zu besorgen“. Geplant ist, dass sowohl Sozial- als auch Finanzressort mehr Aufsichtsrechte und Entscheidungsbefugnisse erhalten. Auch der Verfassungsexperte Theo Öhlinger wertet die Ausweitung der Befugnisse als „eindeutig verfassungswidrig“. Das „Aufsichtsrecht über alle wichtigen Fragen“sei nicht näher definiert.
Paritätische Besetzung Die Gebietskrankenkassen gelten als Versicherung der Dienstnehmer, dort sind die unselbstständig Tätigen versichert. Bei der Fusion der Gebietskrankenkassen wird als oberstes Gremium der Verwaltungsrat geschaffen, dort soll mit jeweils sechs Funktionären ein Gleichgewicht zwischen Dienstnehmern und Dienstgebern geschaffen werden.
Für den ehemaligen Verfassungsrichter Rudolf Müller, der im Auftrag der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse ein Gutachten erstellt hat, ist dieses Vorhaben verfassungswidrig. Bisher sind die Dienstgeber laut Gesetz zu einem Fünftel in den geschäftsführenden Organen der Selbstverwaltung vertreten, wodurch sie bereits überrepräsentiert seien. Das sei aber durch die gemeinsame Verantwortung von Dienstgebern und -nehmern noch zu argumentieren.
Auch nach einer Reform müsse es bei einem „schwachen Einfluss“der Arbeitgeber bleiben. Durch den Überhang von Dienstnehmern war bisher sichergestellt, dass die Gesundheitsversorgung von ihnen selbst mitgestaltet werden kann. Aber genau diese Zielsetzung gerät laut Müller ins Hintertreffen. In einem paritätisch besetzten Organ könne kein Beschluss mehr gegen die Stimmen der Dienstgeber wirksam zustande kommen. Er befürchtet, dass die Interessen der Arbeitgeber mehr Gewicht bekommen, was sich etwa bei der Einführung von Selbstbehalten ausdrücken könnte oder auch in der Zielsetzung, die Zahl der Krankenstände zu senken. Fazit des Verfassungsjuristen Müller: „Es ist ein Wahnsinn, noch nie hat jemand versucht, ganze Bevölkerungsgruppen auszuschließen.“
Außerdem kritisiert er die Voraussetzungen dafür, wie die neuen Gremien beschickt werden sollen. Bereits aktive Funktionäre dürfen im Überleitungsgremium, das am 1. April 2019 seine Arbeit aufnimmt, nicht vertreten sein. Künftige Funktionäre müssten Juristen oder Wirtschaftswissenschafter sein oder Erfahrungen als Geschäftsführer vorweisen. Haben sie das nicht, müssten sie eine Dienstprüfung ablegen, diese ist aber erst ab dem Jahr 2020 möglich. Für Müller ist damit klar, dass keine Betriebsräte oder Gewerkschafter in den neuen Gremien vertreten sein werden.
Beitragsprüfung durch Finanz Der Hauptverband untermauert seine Kritik an der Fusion der Gebietskrankenkassen mit einem Gutachten des Salzburger Verfassungsjuristen Walter Berka. Dieser bewertet die geplante Beitragsprüfung durch die Finanz als verfassungswidrig. „Wird die Beitragskontrolle verstaatlicht, ist das ein Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie, die in der Verfassung festgeschrieben ist.“Bisher lag die Prüfung der Beiträge bei den Sozialversicherungen. Außerdem sieht Berka einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrund- satz, da die mit den Bauern fusionierte Kasse der Selbstständigen und die Kasse der Beamten weiterhin Beiträge prüfen dürften. Finanzminister Löger kann die Kritik nicht nachvollziehen, er beruft sich dabei auf Gutachten von Harald Stolzlechner und der Finanzprokuratur. Negative Begutachtungsstellungnahmen sieht er vor allem in der Sorge der Funktionäre begründet, ihren Einfluss in den Sozialversicherungen zu verlieren.
Kostendarstellung Auch der Rechnungshof äußerte scharfe Kritik an den Reformplänen. Die Darstellung der Kosten ist nach Ansicht der Prüfer ungenügend: „Es fehlen transparente und nachvollziehbare Berechnungsgrundlagen.“Selbst in den Erläuterungen sei nicht klar, wie man auf die angeführten 33 Millionen Euro komme, die als Einsparungsziel genannt werden. Außerdem würden in dem Entwurf die Fusionskosten nicht bewertet werden. „Problematisch“ist für den RH die geplante Abschaffung der Kontrollversammlung in den Trägern. Angesichts des hohen Gebarungsvolumens (63,9 Milliarden Euro 2018) „ist ein Kontrollgremium unbedingt erforderlich“.