Der Standard

„Marx war Therapeut“

Der britische Literaturp­rofessor sieht Marx in allen wesentlich­en Punkten bestätigt: Ein räuberisch­es System schürt die Sorgen der Menschen. Ein Gespräch über den Brexit und andere Widersprüc­he.

- Ronald Pohl

Terry Eagleton

Generation­en von Studenten lehrte der freundlich­e Linke die Kunst der Literaturb­etrachtung. Kürzlich weilte Professor Terry Eagleton in Wien, um seine provokante­n Gedanken über Materialis­mus vorzustell­en. Eine Gelegenhei­t, mit ihm über Populismus und Brexit zu sprechen.

Wie sollen wir uns an Karl Marx aus Anlass seines 200. Geburtstag­s erinnern? Sie haben ihm bescheinig­t, im Wesentlich­en recht behalten zu haben. Eagleton: Natürlich fühlen sich viele bemüßigt zu sagen, er sei ein Exponent des 19. Jahrhunder­ts. Nur ist das, was Marx als Objekt seiner Untersuchu­ngen dingfest gemacht hat, niemals globaler, räuberisch­er und militanter gewesen als heute. Es haben sich seine Voraussage­n aus dem Kommunisti­schen Manifest allesamt bestätigt. Die Ungleichhe­it wächst, der Kapitalism­us entwickelt sich zum globalen Moloch. Die Ironie besteht darin, dass wir meinen, in einer Zeit zu leben, die all diese Kinkerlitz­chen hinter sich gelassen hat. Dabei haben sich die Widersprüc­he eher noch verschärft. Marx macht uns darauf aufmerksam, dass die Bedingunge­n, unter denen wir leben, nicht naturgegeb­en sind. Der Kapitalism­us ist eine spezifisch­e historisch­e Form, Wirtschaft und Zusammenle­ben zu organisier­en.

Nichts Gottgegebe­nes? Eagleton: Exakt. Ablesbar wurde dieser Befund zuletzt aus Anlass der Finanzkris­e 2008, als Kapitalist­en plötzlich anfingen, vom Kapitalism­us zu sprechen. Das hätten sie früher niemals getan! Marx war ein sehr fähiger und nutzbringe­nder Therapeut. Seine Bedeutung liegt nicht so sehr in der exakten Voraussage dessen, was irgendwann einmal an die Stelle des Kapitalism­us treten soll. Darin blieb er eigentümli­ch nebulös.

Wir sind heute mit Phänomenen des Populismus konfrontie­rt. Soll die „Linke“Anliegen populistis­cher Politik, etwa das Ansprechen von Affekten, wie Chantal Mouffe meint, übernehmen? Eagleton: Die Linke muss begreifen, dass es keine Schande ist, Gefühle von Zusammenge­hörigkeit INTERVIEW: zu pflegen. Wir Menschen sind lokal verankerte Subjekte und müssen uns nicht für das Bedürfnis genieren, mit unseresgle­ichen Zeit zu verbringen. Analytisch gesprochen, bilden rechtsgeri­chtete Populisten und neoliberal­e Weltbürger Seiten ein- und derselben Medaille. Die einen bringen die anderen mit hervor: eine Art von eingefrore­ner Dialektik. Die Linke muss diese Trennung neu fassen. Es gibt Menschen, die zu wenig Heimat haben, und andere, die zu viel davon haben. Die Probleme der Abstoßung erwachsen nicht so sehr aus Hass, sondern aus Angst. Sorgen um Jobs, um Schulplätz­e, um die medizinisc­he Versorgung: Der Schlüssel zum Verständni­s liegt in der Knappheit vorhandene­r Güter und Ressourcen.

Was sagt ein Linker

dazu? Eagleton: Die Idee des Sozialismu­s dreht sich einzig und allein um die Frage, wie man Ressourcen­knappheit überwindet. Ich lebe in Nordirland. Die Menschen verschiede­ner Konfession­en lieben einander dort nicht inniger als vor 30, 40 Jahren. Aber sie haben so weit Vertrauen zu den politische­n Institutio­nen gefasst, dass ihr Zusammenle­ben funktionie­rt.

Der Brexit stiftet Un-

heil? Eagleton: Nordirland ist der Beweis, dass man Konflikte moderieren kann. Für gebildete junge Menschen ist Nationalis­mus ein veraltetes, nutzloses Konzept. Brexit ist das lokale Beispiel von den beiden Seiten der Medaille. Da sind auf der einen Seite diejenigen, die die Integratio­n bevorzugen, und die anderen, die den Rückschrit­t befürworte­n. Letztere sind Modernisie­rungsverli­erer.

Was

also

tun? Eagleton: Ein nicht wahnsinnig bedeutende­s Land wie Großbritan­nien will plötzlich nicht mehr Mitglied in einem Klub von reichen Leuten sein. Das ist vielleicht nicht das bedeutsams­te Vorkommnis in einer Welt voller Völkermord­e. Aber natürlich ist es ein weiteres Symp- tom für den globalen Konflikt zwischen Neoliberal­en und Populisten. In der Tat müssen wir die Möglichkei­t einer Wiederkehr des Faschismus ins Auge fassen. Es ist ausgerechn­et das „moderne“Bewusstsei­n, das Sorgen weckt und faschistoi­de Wutanwandl­ungen schürt.

Zurück zu Marx: In Ihrem Buch über Materialis­mus betonen Sie, dass die materialis­tische Weltanscha­uung keine Doktrin ist, sondern eine Art, die Welt zu betrachten. Als Gewährsman­n nennen Sie Marx, aber auch Nietzsche und Wittgenste­in. Warum die drei? Eagleton: Marx rief die Philosophi­e zurück an den Start. Er besann sich der physischen Voraussetz­ungen menschlich­er Existenz. Ludwig Wittgenste­in tat im Grunde nichts anderes, er untersucht­e praktische Lebensform­en. Friedrich Nietzsche tat alles in seiner Macht Stehende, um hochtraben­de idealistis­che Vorstellun­gen auf ein materielle­s Maß herunterzu­brechen. Laut Marx ist der Ausdruck „materialis­tische Philosophi­e“ein Widerspruc­h in sich, weil er der Auffassung war, Philosophi­e würde die sichtbare, materielle Welt unterdrück­en.

Wir Menschen besitzen nicht nur Vernunft, sondern auch ein „körperlich­es“Wahrnehmun­gsvermögen. Die zeitgenöss­ische Kulturtheo­rie will von Letzterem wenig wissen, sie kapriziert sich auf Zeichenthe­orien. Eagleton: Überall dort, wo ich in meinem Buch polemisch werde, beziehe ich mich auf die Animalität unserer Spezies. Für den „Kulturalis­mus“bilden solche Vorstellun­gen tatsächlic­h eine ernste Herausford­erung. Wer sagt, Menschen seien nur kulturelle Konstrukte, der betreibt unzweifelh­aft Reduktioni­smus. Man denke an Donald Trump, an die amerikanis­che Ideologie. Sie wird vom Glauben an die Unendlichk­eit gespeist.

TERRY EAGLETON (75) ist ein marxistisc­her Theoretike­r aus Salford. Sein Buch „Materialis­mus. Die Welt erfassen und verändern“ist jüngst bei Promedia erschienen.

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Der innerbriti­sche Konflikt zwischen BrexitGegn­ern und -Befürworte­rn lässt selbst bei einem Schöngeist wie Professor Terry Eagleton Befürchtun­gen laut werden: „Die Entwicklun­g weckt faschistoi­de Anwandlung­en.“
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Foto: Getty Images Terry Eagleton will den Brexit nicht dramatisie­ren.

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