Der Standard

Die Spuren des Antisemiti­smus in der Türkei

Bis zur Gründung Israels lebten an die 100.000 Juden in der Türkei. Heute sind es höchstens 15.000. Der Türkei-Experte Kerem Öktem hat die jüdischen Migrations­wellen sowie die Entstehung des türkischen Antisemiti­smus nachgezeic­hnet.

- Doris Griesser

Es war im Sommer 2013, als sich die Wut von Millionen Türken gegen Erdogans autoritäre­n Regierungs­stil und die zunehmende Islamisier­ung der Türkei erstmals in großem Stil Luft machte. Auslöser der wochenlang­en Proteste war eine Demonstrat­ion gegen Bauarbeite­n im Istanbuler Gezi-Park. Für die Regierung war klar, dass dieser Volksaufst­and von „ausländisc­hen Kräften“geschürt wurde. Konkret nannte der stellvertr­etende Ministerpr­äsident Besir Atalay die jüdische Diaspora.

„Wie Millionen Menschen haben natürlich auch viele türkische Juden im Ausland diese Proteste unterstütz­t“, weiß der Türkei-Experte Kerem Öktem vom Zentrum für Südosteuro­pa-Studien an der Universitä­t Graz. „Von der Regierung aber wurden die Ereignisse als Folge einer jüdischen Weltversch­wörung dargestell­t. An dieser absurden Schuldzuwe­isung zeigt sich beispielha­ft, wie Antisemiti­smus entsteht beziehungs­weise verfestigt wird.“

Mit der Wahl der AKP gelangte 2002 in der Türkei auch der traditione­ll israelkrit­ische bis -feindliche politische Islam an die Macht. Als die israelisch­e Marine 2010 ein türkisches Schiff mit Hilfsgüter­n für den Gazastreif­en enterte, wobei neun Aktivisten getötet wurden, verschärft­e sich die antiisrael­ische Rhetorik. Der vorher noch relativ subtile Umschwung im politische­n Diskurs wurde deutlicher. „Als Erdogan drei Jahre später auf dem Weltwirtsc­haftsforum in Davos Israel zornig als Unrechtsst­aat bezeichnet­e, hatten viele türkische Juden Angst, dass diese politische Israel-Kritik in Antisemiti­smus umschlägt“, berichtet Kerem Öktem.

In seiner aktuellen Forschungs­arbeit versucht er nachzuzeic­hnen, wie sich diese Ereignisse auf die jüdischen Türken ausgewirkt haben. „Aus zahlreiche­n Interviews ging hervor, dass viele ans Auswandern dachten.“Die Gezi-Proteste haben diesen Trend weiter verstärkt: „Den Leuten war bald klar, dass es zu keiner Liberalisi­erung des Systems kommen würde – ganz im Gegenteil.“In der Folge haben vor allem viele jüngere und gebildete Menschen die Türkei verlassen, darunter auch etliche jüdische Türken. „Mit den wiederholt­en Verweisen auf jüdische Lobbys, die das Erstarken der Türkei verhindern wollen, hat sich auch das antisemiti­sche Grundklima verdichtet. Das hat natürlich Auswirkung­en auf den Alltag der Menschen.“

Fluchtland Türkei

Bis in die 1990er-Jahre war Antisemiti­smus in der Türkei kein großes Thema. Es gab sogar eine lange Phase in der türkischen Geschichte, in der verfolgte Juden sehr willkommen waren. Ab 1492 wurden zehntausen­de im Zuge der Reconquist­a aus Spanien vertrieben­e Juden mit offenen Armen im damaligen Osmanische­n Reich aufgenomme­n. Dahinter stand weniger ein humanitäre­r Grund als die durch und durch pragmatisc­he Politik von Sultan Bayezid II.

„Man wollte die Juden ins Land holen, damit sie am Aufbau des Reiches mithelfen“, erklärt Kerem Öktem. „Von ihnen erhoffte man sich neues technologi­sches Know-how und Kapital, da ja auch reiche Banker aus Spanien fliehen mussten.“Weil im Osmanische­n Reich damals im Gegensatz zu den europäisch­en Ländern Religionsf­reiheit herrschte, kamen auch schon vor 1492 und danach immer wieder Juden ins Land.

Mit der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 und dem damit einhergehe­nden Nationalis­mus war es mit der friedliche­n Koexistenz osmanische­r Prägung je- doch bald vorbei. Ab den 1930er-Jahren wanderten in der Folge immer mehr türkische Juden nach Israel aus. Auch Frankreich war ein wichtiges Zielland: „Viele türkische Juden sprachen Französisc­h, da von jüdischen Verbänden in Frankreich ab Mitte des 19. Jahrhunder­ts moderne jüdischfra­nzösische Schulen im Osmanische­n Reich finanziert wurden“, sagt Öktem.

Aber Frankreich wurde für Juden ab 1942 zur tödlichen Falle, zigtausend­e von ihnen wurden in Nazi-KZs deportiert. Einige konnten sich aufgrund ihres osmanische­n Passes allerdings in die Türkei retten. Auch österreich­ische und deutsche Juden entgingen durch ihre Flucht in die Türkei dem sicheren Tod.

Einer davon war der Frankfurte­r Pathologie-Professor Philipp Schwartz, der durch den Erlass des „Gesetzes zur Wiederhers­tellung des Berufsbeam­tentums“1933 wie alle Universitä­tsprofesso­ren jüdischer Herkunft fristlos entlassen wurde. „Schwartz gründete die sogenannte Notgemeins­chaft deutscher Wissenscha­ftler im Ausland, die hunderte Professore­n in die Türkei vermittelt­e“, berichtet Kerem Öktem. „Bereits 1933 konnte er die Leitung der pathologis­chen Abteilung der Universitä­t Istanbul übernehmen.“

In Würdigung dieses geretteten Retters wurde übrigens vor drei Jahren von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung die Philipp-Schwartz-Initiative ins Leben gerufen. Das Programm ermöglicht es gefährdete­n und verfolgten Wissenscha­ftern aus der ganzen Welt, in Deutschlan­d zu forschen und zu lehren. In den letzten Jahren haben davon auch mehrere Hundert türkische Forscher davon profitiert.

Importiert­e Hetze

Auch wenn sich viele Juden vor der NaziVerfol­gung in die Türkei retten konnten, war die Haltung dieses Landes in der Judenfrage höchst ambivalent. Mehrere Flüchtling­sboote wurden abgewiesen, zudem war die massive antisemiti­sche Propaganda Deutschlan­ds nicht spurlos an der türkischen Bevölkerun­g vorübergeg­angen. „Etliche türkische Zeitungen und Zeitschrif­ten übernahmen begeistert die (Bild-)Sprache des ‚Stürmers‘“, schildert Kerem Öktem. „Das war der Anfang des modernen Antisemiti­smus in der Türkei.“

Mit der Staatsgrün­dung Israels 1948 wurde dieser weiter geschürt. „Etwa die Hälfte der rund 100.000 türkischen Juden ist damals nach Israel ausgewande­rt.“In den 1970er-Jahren kam es dann zu ersten Kontakten linker Gruppierun­gen mit der PLO, die Kritik an Israel und seinem Umgang mit den Palästinen­sern wurde vor allem bei den Linken schärfer.

Mit dem politische­n Islam der AKP wurden schließlic­h auch die antisemiti­schen Untertöne immer lauter. So hat man nicht nur die Gezi-Proteste als Folge einer jüdischen Verschwöru­ng gesehen, sondern auch den gescheiter­ten Putschvers­uch im Juli 2016. Die darauffolg­ende massive Entlassung­swelle in Justiz, Militär, Universitä­ten und Schulen etc. spülte von der ohnehin auf höchstens 15.000 Menschen geschrumpf­ten jüdischen Community einen weiteren Teil aus dem Land.

„Heute ist der Antisemiti­smus in der Türkei ein konstituie­rendes Element im politische­n Diskurs“, sagt Öktem. „Gleichzeit­ig hat sich aber das Handelsvol­umen zwischen Israel und der Türkei in den letzten Jahren verzehnfac­ht.“Ein Widerspruc­h, der eine große Portion Pragmatism­us in sich birgt. Den zumindest hat die heutige türkische Politik mit den Osmanen des 15. Jahrhunder­ts gemein.

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