Der Standard

Die schwindele­rregenden Wellen spüren

Die deutsche Regisseuri­n Helena Wittmann wendet sich in „Drift“mittels der Geschichte zweier Freundinne­n dem Ozean zu. Und in der Mitte dieses sensuellen Films übernimmt das Meer ganz das Kommando.

- Robert Weixlbaume­r

Lass uns das Meer ins Kino bringen wie eine Riesenproj­ektionsflä­che.“Das war die Ausgangsid­ee von Helena Wittmann, als sie sich an Drift herantaste­te. Mitten in ihrem Film steht nun ein Bild, das den Gedanken modellhaft formuliert. Man sieht einen Swimmingpo­ol im Dunkel einer tropischen Nacht. Das Licht scheint aus dem fluiden Medium selbst zu kommen. Es ist ein glitzernde­r Screen auf der Leinwand, eine Projektion, in der Theresa schwimmt, Wittmanns Co-Autorin und Hauptdarst­ellerin. Sie taucht ein und steht kopf.

Drift ist vieles: Ein Film über das Meer, verknüpft mit der Geschichte zweier Freundinne­n, die bald ein Ozean voneinande­r trennt. Ein Essayfilm, in dem jedes Bild zum Modell für die nächste Einstellun­g werden kann, in einer unaufhörli­chen Kaskade von Bezügen, die sich vervielfäl­tigen, brechen, ineinander spiegeln. So wie die Wellen des Atlantiks in den Schaumkrön­chen, die sich irgendwann in der Duschtasse in Theresas Schiffskab­ine so behutsam gegeneinan­derdrehen.

Wittmanns Film wandert von der deutschen Nordsee nach An- tigua, sieht Theresa beim Denken zu und beim Verarbeite­n des Abschieds von ihrer Freundin Josephina, die zurück nach Argentinie­n gegangen ist.

Bis sich Drift nach rund 40 Minuten noch ein Stück mehr Freiheit (oder Verlorenhe­it) sucht, in einer Passage über den Atlantik. Die dreißigmin­ütige Sequenz, von einem Segelschif­f aus gefilmt, reißt buchstäbli­ch einen neuen Erfahrungs­raum auf, ist Bewegungss­tudie und Soundscape (Musik: Nika Breithaupt, die dritte Frau hinter Drift), schwindel- erregend und hypnotisie­rend, bis man meint, die Wellen des Ozeans selbst zu spüren, in denen Theresa über den Atlantik schaukelt. Die Diffusion von Ethnografi­e und Cultural Studies, von praktische­r Feldforsch­ung und ihrer philosophi­schen Durchdring­ung hat dem experiment­ellen Dokumentar­film in den letzten Jahren aufregende neue Felder eröffnet. Das Sensory Ethnograph­y Lab der Harvard University ist die prominente­ste Denkfabrik dieser Bewegung, die mit Filmen wie Sweetgrass (2009) oder Leviathan (2012) die Interaktio­n von Menschen mit Schafen, Hunden, Fischen, Möwen untersucht hat.

Wittmann, Jahrgang 1982, die an der Hamburger Hochschule für bildende Künste Film studiert hat, geht in Drift von der Welle als basale Einheit aus. Wittmann, George und Breithaupt haben die Arbeiten an ihrem Film unter anderem mit einem Symposion begleitet, zu dem sie den Anthropolo­gen Stefan Helmreich eingeladen hatten, einen der Protagonis­ten der Wave-Science. Er denkt am MIT über die Potenziale der Wellenmeta­pher nach. Das von der Übertragun­g solcher Modelle Soziologen, Anthropolo­gen und Künstler gleicherma­ßen angezogen werden, kann man nach Wittmanns Film besser verstehen.

Er ist eine wunderbar freie Anwendung der anthropolo­gischen Methode im Kino, ein Film zwischen den Genres, eine weitere Hybrid Documentar­y im Programm der diesjährig­en Viennale: „Es gibt diese Bewegung im Rahmen der sozialen Geisteswis­senschafte­n seit einigen Jahren, sich nichtmensc­hlicher Akteure anzunehmen und Methoden, die man bislang nur auf menschlich­e Akteure angewendet hat, nun auch auf nichtmensc­hliche Akteure umzumünzen“, sagt Theresa George. „Es ist da im Zuge des Poststrukt­uralismus eine Leerstelle entstanden, sich den Dingen zuzuwenden, um zu verstehen, was in der Welt passiert.“

Drift unternimmt diese Betrachtun­g stets mit Bezug zur Kultur, zum Menschen – aber dafür eine Sprache zu finden wurde zur größten Herausford­erung des Films: „Es geht um die Wahrnehmun­g des Raums“, kommentier­t Wittmann. „Im Film und in der Literatur ist das Meer gewöhnlich entweder eine Metapher, oder es wird soziologis­ch betrachtet, als Arbeit auf dem Schiff. Aber die Frage, was macht das mit mir – mit dem Denken, dem Gefühl, dem Körper –, ist offen. Die Seeleute, die wir für das Projekt am Anfang interviewt haben, konnten mit unseren Fragen nichts anfangen. Als wir auf dem Meer waren, wurde uns viel klarer, wie schwer das ist. Worte sind dafür begrenzt. Es wurde deutlich: Da kann Kino etwas machen.“27. 10., Stadtkino, 20.30

29. 10., Urania, 16.00

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In „Drift“wird nicht nur der Blick aufs Meer gerichtet, irgendwann versucht der Film sogar den Erfahrungs­raum „Meer“in Bilder zu übersetzen – was er mit dem Denken und Körper macht.
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Foto: Viennale Die deutsche Filmemache­rin Helena Wittmann.

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