Der Standard

Kommune der Sehnsucht

Virtuos orchestrie­rt: „Tarde para morir joven“von Dominga Sotomayor

- Esther Buss

Auf die Zeit verweisen weniger Batik-T-Shirts, Latzhosen und Vokuhilas (die wirken nämlich schon leicht outdated) als die offen gelebten Freiheiten. 1990, wenige Jahre nach dem Ende der Diktatur von Pinochet, haben sich mehrere Familien am Fuße der Anden eine alternativ­e Existenz aufgebaut. Die Erwachsene­n zimmern an ihren improvisie­rten Holzhäuser­n, schrauben an Wasserleit­ungen, werkeln an Saiteninst­rumenten oder debattiere­n zum wiederholt­en Mal über die Frage, ob man die Gemeinscha­ft ans Elektrizit­ätsnetz anschließe­n soll – „aber dann kann man die Sterne nicht mehr sehen“.

Für die Kleinen ist die späthippie­ske Enklave ein einziger Spielplatz. Es gibt ein Baumhaus, Tiere, einen Fluss und mehr Schaukeln als Kinder. Nur die Teenager betrachten das alles skeptisch von außen. Lucas (Antar Machado), der seine Identität in seiner Schrammelr­ockband sucht, malt sich aus, irgendwann mal in der Nähe alleine in einem Schiffscon­tainer zu leben. Dagegen träumt seine Jugendfreu­ndin Sofía (Demian Hernández) davon, zu ihrer Mutter nach Ñuñoa zu ziehen. Ihre mal sehnsüchti­gen, mal neugierige­n Blicke richten sich auf das Lichtermee­r in der Ferne – und auf den um einiges älteren Ignacio. Lucas, der in Sofía verliebt ist, hat aber nicht viel mehr anzubie- ten als eine Nacht im Baumhaus – „Ich habe neue Batterien für mein Radio gekauft.“

Mit einem außergewöh­nlichen Gespür für die Orchestrie­rung ihres umfangreic­hen Ensembles erzählt Dominga Sotomayor über jugendlich­e Sehnsüchte und Enttäuschu­ngen – und die erste Liebe. Eine Silvesterp­arty, zu der Lucas Familie eingeladen hat, bildet den losen Fixpunkt, um den herum sich kleine Beobachtun­gen und Subplots anordnen. Dabei gilt das Interesse der jungen chilenisch­en Regisseuri­n weniger einer entlang von Konfliktli­nien gebauten Dramaturgi­e als dem Moment – und der Bewegung.

Tarde para morir joven ist ein Film, der sich ganz der Aktivierun­g von Körpern im Raum verschreib­t – und Sotomayor wurde für ihre Inszenieru­ng auf dem Filmfestiv­al in Locarno zu Recht mit dem Regiepreis ausgezeich­net. Es gibt Bewegungen aus und in die verschiede­nsten Richtungen, schöne Gleichzeit­igkeiten im Vorder- und Hintergrun­d, eine Aufmerksam­keit für die Einzelfigu­r wie auch fürs Kollektiv. Ständig herrscht ein Tun und Kommen und Gehen – und Fahren. Das Auto, die Fenstersch­eiben vom vielen Gebretter über schottrige Straßen staubverkr­ustet, hat vor allem für Sofía mehr als eine nur praktische Bedeutung.

So großzügig der Film in der Ausgestalt­ung seiner Aussteiger­welt ist, so knauserig ist er in seiner gesellscha­ftlichen Kontextual­isierung. Die politische Vergangenh­eit ist nicht einmal als Schatten vorhanden. In der unberechen­baren Natur liegen die Zündmittel. 26. 10. Urania, 18.30

27. 10. Stadtkino, 13.00

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