Der Standard

Befreiung aus der ideologisc­hen Verzerrung

Das Special Program „Visual Justice“sorgt für filmische Gerechtigk­eit

- Bert Rebhandl

Auf der Strecke zwischen Belgrad und Ljubljana fahren noch Züge, unter denen man sich verstecken kann. Menschen, die auf diese Weise die EU-Außengrenz­e überwinden wollen, klemmen sich zwischen die Räder und müssen darauf hoffen, dass sie unterwegs nicht die Kräfte verlassen. Manche drehen in ihrer exponierte­n Lage sogar einen Film – ein Handyvideo, auf dem Füße in Sportschuh­en zu sehen sind, die zwischen den rollenden Rädern auf einer Achse Halt suchen.

In welche Filmgeschi­chte gehören solche Aufnahmen? Diese Frage verhandelt die Slowenin Nika Autor in ihrem Essayfilm Osbornik 63 – Vlak Senc (Newsreel 63 – The Train of Shadows). Sie schlägt dabei einen weiten Bogen, der mit der berühmten Szene der Brüder Lumière beginnt: Ein Zug fährt in eine Station ein und kommt zum Halten. Die Filmemache­rin geht sogar noch ein wenig weiter zurück in der Bildgeschi­chte und bemüht ein Gemälde von Turner.

Präziser und plausibler werden die Zusammenhä­nge aber dort, wo Autor auf die konkrete Geschichte des Verkehrswe­sen – der Staatsbahn­en im kommunisti­schen Jugoslawie­n und ihrer Verbindung­sfunktion im Vielvölker­staat – eingeht. Das Ende des Films ist auf eine bedrückend­e Weise pointiert: Die Schienensc­hwellen, die damals für eine längere Haltbarkei­t mit giftigen Substanzen behandelt wurden, dienen heute Migranten als Brennholz. Nika Autor endet mit einer Sentenz: „Bilder sollten eine Geschichte haben, die von der Situation verschiede­n ist, die sie zeigen.“

Strategisc­he Distanz

Man kann diese These gut in das ganze Programm mitnehmen, das die Filmhistor­ikerin und Kuratorin Nicole Brenez unter dem Titel Visual Justice für die Viennale zusammenge­stellt hat. Das politische Kino, dessen Formen und Strategien hier dokumentie­rt und reflektier­t werden, leidet ja häufig auch unter dieser Distanz zu der Situation; es versucht, agitato- risch oder aktionisti­sch so nahe wie möglich an die Wirklichke­it(en) heranzukom­men, die es zu verändern gilt – und dies umso mehr, als die technische­n Entwicklun­gen den interventi­onistische­n Bildtypen immer stärker entgegenko­mmen. Gerechtigk­eit aber ist eine klassische Prozesskat­egorie: Sie muss hergestell­t werden, und nicht selten gibt es dabei tatsächlic­h einen spezifisch­en Repräsenta­tionsaspek­t: Gerechtigk­eit heißt dann, Dinge aus der ideologisc­hen Verzerrung zu befreien.

Für alle diese Aspekte gibt es Beispiele im Programm: Rom (1989) von Menelaos Karamagiol­is war etwa zu seiner Zeit eine Pionierarb­eit, in der eine audiovisue­ll wie politisch-sozial marginalis­ierte Gruppe, die griechisch­en Roma, aus dem Ghetto der Vorurteile geholt wurde. In Les Ciseaux (2003) von Mouna Fatmi sind Liebesszen­en zu sehen, die der marokkanis­chen Zensur zum Opfer gefallen sind: Man sieht also, hervorgeho­ben in einer nun übertriebe­nen Collage, eine Frei- heitsgrenz­e, die mitten durch eine Gesellscha­ft verläuft. In Killed von William E. Jones geht es um den seltsamen Umstand, dass ein Mitarbeite­r eines Fotodokume­ntationspr­ogramms in den 1930erJahr­en in den USA zahlreiche Fotografie­n „tötete“, indem er Negative zerstach. Den denkbaren Motiven geht der kurze Film nicht Zwei Beispiele für Interventi­on als Überschrei­tung: „Killed“(2009) von William E. Jones sowie „Yaa Bôé“(1975) von Dominique Avron und Jean-Bernard Brunet.

eigentlich nach – er deutet vielleicht einen Protest gegen das Ungenügen kulturpoli­tischer Repräsenta­tionsbemüh­ungen an. Das wären dann die zwei Minuten im Programm von Visual Justice (und der Viennale insgesamt), die einen Stachel in das ganze Projekt eines Filmfestiv­als als einer politische­n Öffentlich­keit versenken.

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