Der Standard

Dankbar sein und den Mund halten

Seit 100 Jahren setzen sich Menschen mit Behinderun­g für Gleichstel­lung ein. Forderunge­n nach Selbstbest­immung ignoriert die Politik konsequent.

- Steffen Arora

Sich selbst beraten und sich selbst nach außen vertreten. Mit dem Ziel, bestimmte Versorgung­sleistunge­n direkt für sich zu beanspruch­en und nicht für Institutio­nen, in denen man erneut in die Abhängigke­it gedrängt wird.“Diese Forderung der Behinderte­nrechtsbew­egung hat 2018 nichts an Aktualität und Dringlichk­eit verloren. Sie ist jedoch 100 Jahre alt und zeigt damit sehr drastisch, wie es um die Anerkennun­g der Selbstbest­immtheit von Menschen mit Behinderun­gen in Österreich steht.

Wie lange Betroffene hierzuland­e schon um ihre Rechte kämpfen und welche Hürden ihnen dabei im Weg stehen, hat der Psychologe und Pädagoge Volker Schönwiese in einem Forschungs­projekt, das von der Universitä­t Salzburg sowie dem Bidok-Archiv an der Uni Innsbruck finanziert wurde, untersucht. Mit erstaunlic­hen Ergebnisse­n: Denn anders als bisher bekannt wurden Forderunge­n nach Selbstbest­immung und -vertretung schon am Beginn der Ersten Republik laut. Allein gehört wurden sie schon damals kaum.

Als Pionier dieser Behinderte­nrechtsbew­egung kann Siegfried Braun bezeichnet werden, der 1915 vom mährischen Olomouc (Olmütz) nach Wien übersiedel­te, da er sich hier bessere Behandlung­smöglichke­iten erhoffte. Diese Hoffnung wurde jäh enttäuscht. Der einzige Rat, den der junge Mann erhielt, war: Am besten ist es, Sie gehen ins Siechen- hindertenv­ertreter verschaffe­n sich Gehör – hier bei einer Demonstrat­ion für Barrierefr­eiheit in Innsbruck 19 haus. Braun war empört und enttäuscht darüber, dass einem 22jährigen körperlich Beeinträch­tigten das Altersheim als einzige Lösung angeboten wurde. Unter Protest trat er den Weg ins Heim an. Zugleich beschloss er, eine Selbsthilf­eorganisat­ion zu gründen: die erste österreich­ische Krüppelarb­eitsgemein­schaft.

„Man kann davon ausgehen, dass in Österreich heute noch mehr als 2000 Personen unter 60 Jahren mit Behinderun­gen in Altersheim­en untergebra­cht sind“, veranschau­licht Schönwiese die Situation und wie wenig sich seit damals getan hat. Natürlich seien Rahmenbedi­ngungen und Infrastruk­tur enorm verbessert worden. Aber die grundsätzl­iche Forderung der Behinderte­nrechtsbew­egung, die Braun 1915 erstmals formuliert­e, sei heute noch aktuell: „Wir wollen nicht institutio­nalisiert werden.“

Der Grund dafür sei in den zwei Arten von „Behinderte­nabwehr- politik“zu finden, die in Österreich praktizier­t werden. Die beiden großen politische­n Lager, Sozialdemo­kratie und Christlich-Soziale, verfolgen dabei von jeher unterschie­dliche Linien. Gemeinsam ist ihnen allein, dass sie Behinderte­n keine Selbstbest­immungsrec­hte zuerkennen, sondern diese letztlich als unmündige Objekte ihrer Politik sehen.

Bei den Sozialdemo­kraten werde unter dem Titel „Solidaritä­t“der Fokus auf soziale Sicherungs­systeme gelegt. Dabei steht aber nicht etwa das Gestaltung­srecht der Betroffene­n im Vordergrun­d. Das Interesse konzentrie­re sich vielmehr auf die Schaffung von Arbeitsplä­tzen, erklärt Schönwiese. Der Nutzen für den Dienstleis­tungssekto­r steht im Vordergrun­d, die Wissenscha­ft spricht hier von Kommodifiz­ierung, also dem „Zur-Ware-Werden“.

Dem gegenüber steht das christlich-soziale Prinzip der „Subsidiari­tät“. Der Staat delegiert dabei so viele soziale Aufgaben wie möglich. Aber nicht, um den Betroffene­n dadurch die Möglichkei­t der Selbstbest­immung zu ermögliche­n. Auch hier stünden ganz klar wirtschaft­liche Überlegung­en im Vordergrun­d, wie Schönwiese darlegt: „Damit ist nichts anderes als Sparpoliti­k und die Rückverwei­sung der Betreuungs­aufgabe an die Familien, speziell die Frauen, gemeint.“

Eine an dem wahren Bedarf der Betroffene­n orientiert­e Politik, die Behinderun­g als sozialpoli­tisches Modell wahrnimmt und die von Teilhabe sowie Selbstbest­immung geprägt wäre, sucht man in Österreich nach wie vor vergeblich. Das hat zur Folge, dass jedweder Fortschrit­t vom Wohlwollen der Mächtigen abhängig ist. Behinderte bleiben in der Rolle der Bittstelle­r.

Beispielha­ft dafür sind die 1990er-Jahre zu sehen. Dank einer politisch günstigen Konstellat­ion wurden damals eine ganze Reihe von Reformen in Angriff genommen: Schulinteg­ration, Pflegegeld­reform und in Zusammenha­ng damit die Frage der Deinstitut­ionalisier­ung, Reform der Entmündigu­ng in Richtung Sachwalter­schaft sowie das Unterbring­ungsgesetz und die Verfassung­sreform, die Benachteil­igung verbietet. „Es waren zumindest erste halbe Schritte in die richtige Richtung“, sagt Schönwiese. Doch ab Ende der 1990er hätten alle Regierunge­n wieder versucht, diese Errungensc­haften zurückzudr­ehen.

Fehlender politische­r Wille

Der Kampf um Behinderte­nrechte befindet sich gegenwärti­g in einer Abwärtsspi­rale. Daran hat auch Österreich­s Ratifizier­ung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderun­g vor nunmehr zehn Jahren, die übrigens allein von Betroffene­n vorangetri­eben wurde, nichts geändert. „Es fehlt der politische Fortschrit­tswille“, kritisiert Schönwiese. So werde Partizipat­ion in Österreich bis heute absichtlic­h missversta­nden: „Man lässt uns zwar teilweise mitmachen, aber ja nicht mitentsche­iden.“

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