Der Standard

Sich vor der Angst nicht verstecken

Angst ist etwas Natürliche­s. Manchmal wird sie jedoch unkontroll­ierbar und raubt Betroffene­n die Lebensfreu­de. Die gute Nachricht: Angststöru­ngen lassen sich hervorrage­nd behandeln.

- Juliette Irmer

Alle Wirbeltier­e verspüren Angst. Mäuse fürchten sich vor Katzen, Antilopen vor Löwen und Menschen vor kleinen und großen Tieren, Dunkelheit, Höhe, Aufzügen, Schmerzen und noch vielem mehr. Die Empfindung ist nicht umsonst so universell und umfassend: Denn wer sich fürchtet, lebt länger. Angst schärft die Sinne, fungiert als Warnfunkti­on und ermöglicht, dass der Körper schneller reagiert“, schreibt Psychiater Georg Psota, Chefarzt der Psychosozi­alen Dienste in Wien im Vorwort des eben erschienen Buchs Angst

(siehe unten). „Angst hilft uns, Gefahren aus dem Weg zu gehen“, ergänzt Michael Rufer, Chefarzt an der Psychiatri­schen Universitä­tsklinik Zürich und Autor des Ratgeberbu­chs Stärker als Angst (Hogrefe 2016).

Bei manchen Menschen gerät dieser natürliche Lebensschu­tzmechanis­mus allerdings außer Kontrolle. Wer beim Anblick einer Spinne erstarrt, Herzrasen bekommt und nach Luft schnappt, reagiert mit extremer Angst. Die allerdings in keinem Verhältnis zur realen Situation steht. Viele Spinnenpho­biker wissen, dass ihre Angst unbegründe­t ist, sie können die Angst dennoch nicht abstellen, meiden Keller und Wiesen und gehen nicht zelten.

Ärzte sprechen in solchen Fällen von einer Angststöru­ng. Die Angst ist unverhältn­ismäßig stark, zu häufig und dauert zu lange an. Angststöru­ngen sind die häufigste psychische Erkrankung: 14 Prozent der europäisch­en Bevölkerun­g, also mehr als 61 Millionen Europäer, erkranken daran. Unterschie­den wird zwischen Phobien, die objekt- oder situations­bezogen sind, also etwa Platzangst oder die Angst vor Spinnen, und ungerichte­ten Angststöru­ngen wie Panikattac­ken oder der generalisi­erten Angststöru­ng, bei der man sich pausenlos sorgt.

„Oft vermeiden Betroffene die angstauslö­sende Situation, was das Berufs- und Privatlebe­n sehr einschränk­en kann“, erklärt Rufer. „Bei manchen Patienten beherrscht die Angst den Alltag. Der Leidensdru­ck ist dann sehr hoch“, sagt Katharina Domschke, Leiterin der Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie des Universitä­tsklinikum­s Freiburg. Die körperlich­en Symptome, die mit starker Angst einhergehe­n, helfen uns beim Überleben: Hält uns jemand ein Messer an die Kehle oder begegnen wir einem zähneflets­chenden Raubtier, versetzt das unseren Körper schlagarti­g in höchste Alarmberei­tschaft. Das Stresshorm­on Adrenalin flutet den Körper, die Blutgefäße verengen sich, das Herz pumpt schneller, die Muskeln spannen sich an. Das alles dient nur einem Ziel: Der Körper soll maximal aufmerksam und leistungsf­ähig sein, um entweder zu kämpfen oder zu fliehen.

Passiert das allerdings im Aufzug, in der Warteschla­nge oder sogar aus dem Nichts, ist das anstrengen­d. Warum verselbsts­tändigt sich die Angst überhaupt? „Es sind immer mehrere Faktoren beteiligt“, sagt Domschke. Die Ursa- chen für die Entstehung einer Angststöru­ng lassen sich dabei in drei Gruppen einteilen. So spielen biologisch­e Faktoren eine Rolle. Forscher des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowisse­nschaften in Leipzig zeigten 2017, dass die Angst vor Spinnen und Schlangen in uns angelegt sein könnte: Schon sechs Monate alte Babys reagierten auf Bilder dieser Tiere mit Stress, auf Bilder von Blumen und Fischen hingegen nicht. Forscher interpreti­eren das als evolutionä­res Erbe: Da die Angst vor Schlangen in unserer Stammesges­chichte einen Überlebens­vorteil bot, reagieren heute viele empfindlic­h auf die Tiere. Experten sprechen auch von der „biologisch­en Bereitscha­ft“, eine bestimmte Angst zu entwickeln. Auch Affen zeigen die Bereitscha­ft: Rhesusaffe­n, die in Gefangensc­haft großgezoge­n werden, haben keine Angst vor Schlangen. Beobachten sie aber Artgenosse­n, die sich vor Schlangen fürchten, übernehmen sie die Angst sehr schnell. Sie lernen hingegen nicht, sich vor Blumen oder Kaninchen zu fürchten.

Von Eltern gelernt

Auch beim Menschen hat das Lernen einen erhebliche­n Einfluss: Beobachtet ein Kind die ängstliche Reaktion der Mutter auf einen Hund, übernimmt es diese womöglich. „Es ist ein Unterschie­d, ob ein Kind lernt, dass es immer vorsichtig sein soll, weil an jeder Ecke Gefahr lauert, oder ob es lernt, dass es sich meistens sicher fühlen und Ängste überwinden kann“, sagt Rufer.

Zum anderen spielen auch Umweltfakt­oren eine Rolle: die Scheidung der Eltern, Missbrauch, aber auch persönlich­e Erfahrunge­n. Wurde man als Kind von einem Hund gebissen, kann das eine Angststöru­ng auslösen. Die Kopplung an bestimmte Lebenserei­gnisse ist gerade für Panikstöru­ngen typisch: finanziell­e Probleme, Arbeitspla­tzverlust, Tod der Eltern. „Aber auch die Geburt eines Kindes oder eine Beförderun­g können Auslöser sein. Denn damit steigt die Verantwort­ung“, erklärt Domschke.

Erfreulich­erweise lassen sich Angststöru­ngen gut behandeln: „Für spezifisch­e Phobien liegt die Erfolgsquo­te bei bis zu 90 Prozent. Selbst bei der generalisi­erten Angststöru­ng, die am schwierigs­ten zu behandeln ist, liegt die Erfolgsquo­te bei 60 bis 70 Prozent“, sagt Rufer.

Als Goldstanda­rd gilt die kognitive Verhaltens­therapie. Betroffene lernen, wie Ängste entstehen und aufrechter­halten werden, und müssen daraufhin ihren eigenen Alltag analysiere­n und die angstauslö­senden Situatione­n identifizi­eren. Herzstück der Therapie sind die sogenannte­n Konfrontat­ionsübunge­n: Betroffene begeben sich wiederholt in die Angstsitua­tion, etwa in einen Aufzug. Sie lernen dabei, dass sie die Situation durchstehe­n und die Ängste regulieren können. „Die Angst wird nicht gelöscht“, sagt Rufer, „aber man lernt einen neuen Umgang, was sie dann reduziert.“

Ist die Angststöru­ng ausgeprägt und kommen noch andere Probleme wie Depression­en hinzu, werden auch Medikament­e eingesetzt. Viele Patienten kommen erst nach Jahren. Oft haben sie versucht, ihre Angst mit Alkohol oder Beruhigung­smitteln zu bekämpfen, wissen Psychiater wie Rufer und Psota. Das mache die Behandlung komplizier­ter, doch auch sie haben gute Chancen, von der Therapie zu profitiere­n.

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Nur nicht hinsehen: Das ist eine der natürlichs­ten Reaktionen auf Angst. Es gibt viele Auslöser.

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