Der Standard

Ein Lebensflüc­htling in Grenzregio­nen

Flucht und Heimatlosi­gkeit: Gerhard Jägers Roman „All die Nacht über uns“steht auf der Shortlist für den Österreich­ischen Buchpreis

- Stefan Gmünder

Wien – Ein Mann mit Gewehr auf einem Wachturm, vor ihm liegen ein dämmriges Feld und eine lange Nacht. Plötzlich „flattern Vögel auf, als hätte ein Schuss sie erschreckt“. Es sind nur wenige Sätze, die Gerhard Jäger in seinem neuen Roman All die Nacht über uns (Picus, € 22,–) benötigt, um den Leser in eine dichte und archaische Atmosphäre zu versetzen, deren dunklem Sog man sich nur schwer entziehen kann.

Das, was nicht hier sein darf

Der namenlose Mann, um den sich in diesem Roman alles dreht, ist Soldat. Er und seine Kameraden bewachen als „Augen ihrer Gemeinscha­ft“die Grenze und starren „auf der Suche nach Schatten im Finsteren, auf der Suche nach dem, was nicht hier sein darf“, ins Dunkel der Nacht. Jene Fremden, die unerwünsch­t sind, versucht man sich in diesem Ro- man mit drei Meter hohen Zäunen vom Leib zu halten. Gelingen wird es nicht.

Der 1966 im Vorarlberg geborene Schriftste­ller Gerhard Jäger, der als Behinderte­nbetreuer, Lehrer und Journalist arbeitete, legt es in seinem zweiten Buch allerdings nicht darauf an, „nur“einen Flüchtling­sroman zu schreiben. Zwar thematisie­rt er immer wieder die (geo)politische Dimension von Krieg und Vertreibun­g, mehr noch interessie­rt ihn aber die Spiegelung des Themenkomp­lexes Heimat, Flucht und Zugehörigk­eit an individuel­len Schicksale­n. Unter anderem in Form der authentisc­hen Geschichte eines 14-jährigen Mädchens, das 1945 von der Roten Armee aus Hinterpomm­ern vertrieben wurde, die in den Roman eingearbei­tet ist.

Schnell wird auch klar, dass es sich bei diesem Soldaten, von dem in der dritten Person im Präsens erzählt wird, um einen handelt, der selbst an die Grenzen der Kraft und seiner Fantasie gelangt ist. Nicht erst seit einer Serie von Schicksals­schlägen hat sich in ihm eine „ungeheure Fremdheit“breitgemac­ht. Oft ist das ziellose Gehen für ihn die einzige Möglichkei­t, zur Ruhe zu kommen.

Nun ist er in diesem Buch auf der Plattform des Turms zur Immobilitä­t verdammt, während seine Gedanken und Erinnerung­en außer Kontrolle geraten. Letzteres ist auch der fast vollkommen­en Dunkelheit geschuldet, in der Gerhard Jäger die zwölf Kapitel des Buches spielen lässt, für jede Stunde der um 19 Uhr beginnende­n Nachtwache eines.

Auge in Auge

Es gehört zu den gelungenen Kunstgriff­en dieses Romans, dass neben dem Hören der visuelle Sinn der am meisten strapazier­te bleibt. Denn Grenzsiche­rer leben vom Sehen. Und das Sehen, die Nähe verhindert zuweilen das Töten. Auge in Auge fällt kein Schuss. Jedenfalls in diesem Roman kein gezielter.

Die Passagen, in denen die existenzie­lle Verunsiche­rung des Soldaten angedeutet wird und dieser in seine Erinnerung­en verstrickt­e Wächter zum von sich selbst Gejagten wird, sind stark und schlüssig. Allerdings hat der Autor weitere Ebenen in den Roman eingearbei­tet. Der Soldat hat sein Kind verloren, das unbeaufsic­htigt im Pool ertrank, die Frau ging in den Freitod und nach einer Vergewalti­gung stürmen aufgebrach­te Menschen ein Flüchtling­sheim. Sie haben Fackeln in der Hand, auch der Soldat.

Das derart überfracht­ete Buch bricht am Ende unter seiner Last zusammen. Zudem weicht die anfänglich poetische, aber trotzdem präzise Erzählweis­e einem raunenden Beschwörun­gston, der von sprachlich­en Versatzstü­cken nicht frei bleibt. All das nimmt dem Buch die in ihm angelegte Ambivalenz, Weite und Wucht.

Trotzdem findet sich Gerhard Jägers Roman zu Recht auf der Shortlist für den Österreich­ischen Buchpreis: weil hier das Erzählen dem Leben dient. Auch dem Leben der Toten und dem Leben jener Schatten hinter dem Grenzzaun. p oesterreic­hischer-buchpreis.at

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Foto: Fotodesign Bianca Wagner Geopolitik und individuel­le Schicksale: Gerhard Jäger.

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