Wir müssen Widerstand leisten
Die politischen und moralischen Maßstäbe in Europa haben sich verschoben. Die Politik der neuen Rechten will den Zusammenhalt der Gesellschaften zerstören. Wie man dieser Entwicklung Einhalt gebieten kann.
Wir beobachten in der EU beunruhigt den Zulauf, den rechte und rechtsextreme Parteien genießen, die kein Hehl aus ihrer Ablehnung eines freien, eines vereinten Europas machen. Sie arbeiten darauf hin, die liberale Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Unabhängigkeit der Medien und der Gerichte auszuhebeln und die Zivilgesellschaft einzuschüchtern, um sie am Ende zu kastrieren.
Was wir erleben, nennt der slowakische Autor Michal Hvorecký hellsichtig eine Osteuropäisierung Europas. Hvorecký meint damit unter anderem den wachsenden Einfluss der Putin’schen Propaganda, der es gelungen ist, die Gesellschaften Osteuropas, in zunehmendem Ausmaß aber auch des Westens zu verunsichern und zu demoralisieren. Etwa dadurch, dass der Begriff der Wahrheit infrage gestellt und versucht wird, eine eigene, alternative, den jeweiligen Bedürfnissen anzupassende Wahrheit zu etablieren. Schwarz muss nicht immer schwarz sein und weiß nicht immer weiß, es kommt auf die Umstände an, schwarz kann auch weiß sein, es gibt keine Gewissheit. Das kennen wir auch aus den USA, wo der Einfluss Putins ebenfalls unheilvolle Spuren hinterlässt. Wir brauchen nur an die Wahl Donald Trumps zu denken.
In Sowjetzeiten war die Moskauer Propaganda leicht zu durchschauen, sie kam plump und durchsichtig daher. Die neue Propaganda schleicht auf leisen Sohlen, oft gut getarnt. Sie wird verbreitet von zahllosen Trollen, die auf Befehl Fake-Profile erstellen und Fake-News verbreiten, um Ängste und Unsicherheiten zu schüren.
Alte und neue Propaganda
Daneben existiert allerdings auch noch die alte Propaganda, die plumpe Lüge, die sich allein auf die Autorität des Redners stützt, dem keiner zu widersprechen wagt. Jeder weiß, dass er lügt, und er weiß, dass alle wissen, dass er lügt, und trotzdem lügt er der Öffentlichkeit ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken.
Jarosław Kaczyński, Chef der rechtspopulistischen polnischen Regierungspartei PiS, sagte vor einiger Zeit in aller Öffentlichkeit, im liberalen Westen würde jedermann, der behaupte, aus einer homosexuellen Ehe könnten keine Kinder hervorgehen, unverzüglich ins Gefängnis geworfen. Beweise dafür führte er keine an. Kaczyński nimmt als Herrscher für sich in Anspruch, die Fakten beliebig manipulieren zu können. Er allein bestimmt, was wahr ist. Dafür gibt es in Polen einen Satz, der schon die Kommunisten und ihren Umgang mit der Wahrheit charakterisierte: „Fakty są inne? Tym gorzej dla faktów.“(„Die Fakten sind anders? Umso schlimmer für die Fakten.“)
Regime regieren mit Angst, sie schüren Ängste, Zweifel und Unsicherheiten. Ängste vor Flüchtlingen und Homosexuellen, vor Feministinnen und kritischen Intellektuellen, vor unabhängigen Journalisten und Vertretern von NGOs, und generell vor dem Anderen, dem Fremden, der anders aussieht und, Gott möge abhüten!, vielleicht auch noch anders betet. Jedes autoritäre Regime braucht Feindbilder und Sündenböcke, auf die man, wenn es geboten erscheint, einprügeln kann. Das besorgen bei Bedarf staatlich konzessionierte faschistische Schlägerbanden und selbsternannte Milizen, die vorgeben, irgendetwas zu schützen, ein Dorf vor den benachbarten Roma oder die Heimat vor unerwünschten Migranten.
Was können, was müssen wir tun, um dem rechten Backlash, der Ausbreitung von Nationalismus und Fremdenhass, Hetze gegen Flüchtlinge und Andersdenkende Einhalt zu gebieten? In erster Linie heißt es, nicht zu resignieren. Nicht den Kopf hängen zu lassen. Wir dürfen nicht wegschauen, im Gegenteil, wir müssen genau hinschauen und die Entwicklung scharf im Auge be- halten. Wir müssen uns informieren und danach trachten, auch andere zu informieren. Auf welche Weise auch immer. Wir dürfen nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Das ist es nicht! Die Situation ist gefährlich, brandgefährlich sogar. Das dürfen wir nie vergessen, sonst werden wir überrollt und an die Wand gedrückt. Wir müssen Widerstand leisten, auf allen Ebenen und mit allen Mitteln, wir müssen schreiben und diskutieren, streiten und versuchen zu überzeugen, wir müssen uns zusammenschließen und neue Strategien ausarbeiten. Und wir dürfen uns auf keinen Fall einschüchtern und dazu verleiten lassen, Selbstzensur zu üben. Selbstzensur ist das schlimmste Gift, das die Gesellschaft von innen heraus erodiert.
Die Politik der neuen Rechten verfolgt das Ziel, den Zusammenhalt der Gesellschaften zu zerstö- ren. Dem müssen wir entgegentreten. Wir müssen Solidarität üben, mit Fremden, die unserer Hilfe bedürfen, mit kritischen Journalisten, die in vielen Ländern eingesperrt oder gar ermordet werden. Das dürfen wir nicht hinnehmen, sonst versinkt Europa in einem Sumpf von Korruption und Gangstertum, wie er in Putins Russland herrscht.
Die Welt hat sich rasant verändert, darauf müssen wir uns einstellen, auch wenn uns das nicht leichtfallen mag. Wir im Westen sind träge geworden, Wohlstand und Sicherheit haben uns verwöhnt und eingelullt. Viele Menschen glauben, die Demokratie sei von Gott gegeben, sie falle wie Manna vom Himmel. Ein fataler Irrtum, wie wir jetzt erkennen. Für die Demokratie müssen wir kämpfen, jeden Tag.
Wir müssen alles tun, um die Zivilgesellschaft aufzurüsten und zu stärken. Dazu kann jeder etwas beitragen. Das Beispiel mancher Länder, etwa Polens, zeigt, wie wehrhaft die Zivilgesellschaft sein kann. Wie rasch es gelingen kann, Hunderttausende zu mobilisieren, damit sie gegen die offizielle Politik protestieren oder ihre Solidarität mit Opfern des Regimes ausdrücken.
Auch das ist Osteuropa. Es ist keine Schande, sich am Beispiel der hartnäckig widerständigen polnischen Zivilgesellschaft zu orientieren und sich vielleicht bei den dortigen Freunden etwas abzuschauen. Wir müssen noch viel lernen.
MARTIN POLLACK ist Autor und Übersetzer. Dieser Text ist ein Auszug aus seiner Dankesrede zur Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preises. p Volltext: derStandard.at/Debatten