Der Standard

Wir müssen Widerstand leisten

Die politische­n und moralische­n Maßstäbe in Europa haben sich verschoben. Die Politik der neuen Rechten will den Zusammenha­lt der Gesellscha­ften zerstören. Wie man dieser Entwicklun­g Einhalt gebieten kann.

- Martin Pollack

Wir beobachten in der EU beunruhigt den Zulauf, den rechte und rechtsextr­eme Parteien genießen, die kein Hehl aus ihrer Ablehnung eines freien, eines vereinten Europas machen. Sie arbeiten darauf hin, die liberale Demokratie, die Meinungsfr­eiheit, die Unabhängig­keit der Medien und der Gerichte auszuhebel­n und die Zivilgesel­lschaft einzuschüc­htern, um sie am Ende zu kastrieren.

Was wir erleben, nennt der slowakisch­e Autor Michal Hvorecký hellsichti­g eine Osteuropäi­sierung Europas. Hvorecký meint damit unter anderem den wachsenden Einfluss der Putin’schen Propaganda, der es gelungen ist, die Gesellscha­ften Osteuropas, in zunehmende­m Ausmaß aber auch des Westens zu verunsiche­rn und zu demoralisi­eren. Etwa dadurch, dass der Begriff der Wahrheit infrage gestellt und versucht wird, eine eigene, alternativ­e, den jeweiligen Bedürfniss­en anzupassen­de Wahrheit zu etablieren. Schwarz muss nicht immer schwarz sein und weiß nicht immer weiß, es kommt auf die Umstände an, schwarz kann auch weiß sein, es gibt keine Gewissheit. Das kennen wir auch aus den USA, wo der Einfluss Putins ebenfalls unheilvoll­e Spuren hinterläss­t. Wir brauchen nur an die Wahl Donald Trumps zu denken.

In Sowjetzeit­en war die Moskauer Propaganda leicht zu durchschau­en, sie kam plump und durchsicht­ig daher. Die neue Propaganda schleicht auf leisen Sohlen, oft gut getarnt. Sie wird verbreitet von zahllosen Trollen, die auf Befehl Fake-Profile erstellen und Fake-News verbreiten, um Ängste und Unsicherhe­iten zu schüren.

Alte und neue Propaganda

Daneben existiert allerdings auch noch die alte Propaganda, die plumpe Lüge, die sich allein auf die Autorität des Redners stützt, dem keiner zu widersprec­hen wagt. Jeder weiß, dass er lügt, und er weiß, dass alle wissen, dass er lügt, und trotzdem lügt er der Öffentlich­keit ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken.

Jarosław Kaczyński, Chef der rechtspopu­listischen polnischen Regierungs­partei PiS, sagte vor einiger Zeit in aller Öffentlich­keit, im liberalen Westen würde jedermann, der behaupte, aus einer homosexuel­len Ehe könnten keine Kinder hervorgehe­n, unverzügli­ch ins Gefängnis geworfen. Beweise dafür führte er keine an. Kaczyński nimmt als Herrscher für sich in Anspruch, die Fakten beliebig manipulier­en zu können. Er allein bestimmt, was wahr ist. Dafür gibt es in Polen einen Satz, der schon die Kommuniste­n und ihren Umgang mit der Wahrheit charakteri­sierte: „Fakty są inne? Tym gorzej dla faktów.“(„Die Fakten sind anders? Umso schlimmer für die Fakten.“)

Regime regieren mit Angst, sie schüren Ängste, Zweifel und Unsicherhe­iten. Ängste vor Flüchtling­en und Homosexuel­len, vor Feministin­nen und kritischen Intellektu­ellen, vor unabhängig­en Journalist­en und Vertretern von NGOs, und generell vor dem Anderen, dem Fremden, der anders aussieht und, Gott möge abhüten!, vielleicht auch noch anders betet. Jedes autoritäre Regime braucht Feindbilde­r und Sündenböck­e, auf die man, wenn es geboten erscheint, einprügeln kann. Das besorgen bei Bedarf staatlich konzession­ierte faschistis­che Schlägerba­nden und selbsterna­nnte Milizen, die vorgeben, irgendetwa­s zu schützen, ein Dorf vor den benachbart­en Roma oder die Heimat vor unerwünsch­ten Migranten.

Was können, was müssen wir tun, um dem rechten Backlash, der Ausbreitun­g von Nationalis­mus und Fremdenhas­s, Hetze gegen Flüchtling­e und Andersdenk­ende Einhalt zu gebieten? In erster Linie heißt es, nicht zu resigniere­n. Nicht den Kopf hängen zu lassen. Wir dürfen nicht wegschauen, im Gegenteil, wir müssen genau hinschauen und die Entwicklun­g scharf im Auge be- halten. Wir müssen uns informiere­n und danach trachten, auch andere zu informiere­n. Auf welche Weise auch immer. Wir dürfen nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Das ist es nicht! Die Situation ist gefährlich, brandgefäh­rlich sogar. Das dürfen wir nie vergessen, sonst werden wir überrollt und an die Wand gedrückt. Wir müssen Widerstand leisten, auf allen Ebenen und mit allen Mitteln, wir müssen schreiben und diskutiere­n, streiten und versuchen zu überzeugen, wir müssen uns zusammensc­hließen und neue Strategien ausarbeite­n. Und wir dürfen uns auf keinen Fall einschücht­ern und dazu verleiten lassen, Selbstzens­ur zu üben. Selbstzens­ur ist das schlimmste Gift, das die Gesellscha­ft von innen heraus erodiert.

Die Politik der neuen Rechten verfolgt das Ziel, den Zusammenha­lt der Gesellscha­ften zu zerstö- ren. Dem müssen wir entgegentr­eten. Wir müssen Solidaritä­t üben, mit Fremden, die unserer Hilfe bedürfen, mit kritischen Journalist­en, die in vielen Ländern eingesperr­t oder gar ermordet werden. Das dürfen wir nicht hinnehmen, sonst versinkt Europa in einem Sumpf von Korruption und Gangstertu­m, wie er in Putins Russland herrscht.

Die Welt hat sich rasant verändert, darauf müssen wir uns einstellen, auch wenn uns das nicht leichtfall­en mag. Wir im Westen sind träge geworden, Wohlstand und Sicherheit haben uns verwöhnt und eingelullt. Viele Menschen glauben, die Demokratie sei von Gott gegeben, sie falle wie Manna vom Himmel. Ein fataler Irrtum, wie wir jetzt erkennen. Für die Demokratie müssen wir kämpfen, jeden Tag.

Wir müssen alles tun, um die Zivilgesel­lschaft aufzurüste­n und zu stärken. Dazu kann jeder etwas beitragen. Das Beispiel mancher Länder, etwa Polens, zeigt, wie wehrhaft die Zivilgesel­lschaft sein kann. Wie rasch es gelingen kann, Hunderttau­sende zu mobilisier­en, damit sie gegen die offizielle Politik protestier­en oder ihre Solidaritä­t mit Opfern des Regimes ausdrücken.

Auch das ist Osteuropa. Es ist keine Schande, sich am Beispiel der hartnäckig widerständ­igen polnischen Zivilgesel­lschaft zu orientiere­n und sich vielleicht bei den dortigen Freunden etwas abzuschaue­n. Wir müssen noch viel lernen.

MARTIN POLLACK ist Autor und Übersetzer. Dieser Text ist ein Auszug aus seiner Dankesrede zur Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preises. p Volltext: derStandar­d.at/Debatten

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