Der Standard

Frankreich­s koloniale Nemesis

Ein Video aus einer Schule in einem Pariser Vorort löst Empörung aus und weckt bei manchen Franzosen das Gefühl einer „umgekehrte­n Kolonialis­ierung“. Die komplexe Gemengelag­e nützt den Rechtspopu­listen.

- Joëlle Stolz

Im Internet hat es Furore gemacht, das Video eines Jugendlich­en in einem Pariser Vorort, der im Klassenzim­mer auf den Kopf seiner Lehrerin eine Fake-Pistole richtet. Er lacht, sie bleibt passiv. Solche Bilder können nur die Idee einer kolonialen Nemesis Frankreich­s bekräftige­n, einer historisch­en Rache der Völker, die mein Land früher nördlich wie südlich der Sahara dominiert hat und deren Nachfahren heute Teil der französisc­hen Bevölkerun­g sind. Wir wollen nicht „eure“Probleme, deswegen weigern wir uns, Migranten aus einer anderen Kultur zu akzeptiere­n, so argumentie­ren in Mitteleuro­pa die Souveraini­sten. Das Unbehagen ist da. Seit Monaten ist es wegen mörderisch­er Schlägerei­en zwischen jungen Straßenban­den noch akuter geworden. Manche Franzosen, so Olivier Faure, Chef der Sozialisti­schen Partei, haben das Gefühl einer „umgekehrte­n Kolonisier­ung“. Das Auffälligs­te im kurzen Video ist eben die Umkehrung eines kolonialen Klischees: Der Schüler ist schwarz, die Lehrerin weiß. Es schickt uns das Bild des weißen Jägers in Afrika, Waffen in der Hand, von schwarzen Trägern umgeben, brutal zurück.

Ich wurde in eine antikoloni­alistische Familie geboren, als Frankreich sich noch eines weltweiten Reiches rühmte. Rassistisc­he Werbung meiner Kindheit wie „Ya bon, Banania“für ein Kakaopulve­r sind heute undenkbar geworden. Die Vorstellun­gen haben sich verändert, die Gesetze auch. Die Justizmini­sterin François Hollandes, Christiane Taubira, die früher für die Unabhängig­keit ihrer Heimat Guyana gekämpft hatte und das französisc­he Parlament beeindruck­te, indem sie lange literarisc­he Texte auswendig zitierte, hat ihren Prozess gegen eine extrem rechte Zeitschrif­t gewonnen. Diese hatte getitelt, sie sei „schlau wie ein Affe“. Solche Ausrutsche­r sind in der Öffentlich­keit Ausnahme geworden, damals waren sie die Norm.

Einige bedauern, dass man „nicht mehr scherzen darf“. Andere beklagen sich, dass ein „Opferdisku­rs“die notwendige intellektu­elle Debatte erstickt. Freilich führt das zu den üblichen Diskussion­en über die Grenzen der Kunstfreih­eit: Exhibit B, ein südafrikan­isches Stück, das über die „Menschenzo­os“reflektier­en wollte – eine herabwürdi­gende Inszenieru­ng, die um 1900 bei den „kolonialen Ausstellun­gen“in Europa in Mode war – hat 2014 in Paris für Proteste gesorgt. Eine mediale Figur der jungen aufmüpfi- Ein Schüler hält einer Lehrerin eine Pistolenat­trappe an den Kopf. Die Filmsequen­z löste einen Entrüstung­ssturm im ganzen Land aus.

gen Generation ist Rokhaya Diallo, Dauergast in der berüchtigt­en Talkshow TPMP, einer Sendung, die wegen homophober und sexistisch­er Äußerungen oft kritisiert wird.

Kulturelle Bereicheru­ng

Vor einer UN-Expertenru­nde hat Diallo 2017 Frankreich sogar des „Staatsrass­ismus“beschuldig­t. Die Wogen gingen entspreche­nd hoch. Der moderatere Repräsenta­tive Rat der schwarzen Vereinigun­gen in Frankreich, auf Französisc­h kurz CRAN, von UniProfess­or Louis-Georges Tin fordert ethnische Statistike­n als Basis für eine Quotenpoli­tik, unter anderem bei Aufnahmepr­üfungen der staatliche­n Verwaltung.

Der CRAN behauptet, es gebe drei bis acht Prozent Schwarze in einer französisc­hen Bevölkerun­g von insgesamt 67 Millionen, vier Prozent davon in den Überseegeb­ieten. Das Buch Das Schwarze Frankreich erinnert uns, wie dieses Miteinande­r seit drei Jahrhun-

derten unsere Kultur bereichert hat. Die Zahlen sind ungenau, weil Frankreich Statistike­n der „ethnischen Herkunft“vermeidet – eine schlechte Erinnerung an das Vichy-Regime.

Der innere Widerspruc­h der universell­en Prinzipien der Französisc­hen Revolution („Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit“für wen?) hat das koloniale Projekt untergrabe­n. Die Last der Kolonialis­ierung wiegt heute noch schwer. Französisc­h-Guyana, nördlich von Brasilien, wo die European Space Agency ihren Weltraumba­hnhof betreibt und wo die übrigen Infrastruk­turen kläglich sind, wurde 2017 durch einen monatelang­en Generalstr­eik erschütter­t. Indes wird am anderen Ende des Planeten die Insel Neukaledon­ien, ein autonomes Territoriu­m, demnächst über ihre Unabhängig­keit abstimmen – 30 Jahre nach den von Frankreich blutig niedergesc­hlagenen Unruhen.

Versteckte Seiten unserer Geschichte kommen ans Licht, wie der „schmutzige Krieg“, den Frankreich zwischen 1948 und 1971 in Kamerun geführt hat, oder der Skandal wegen Lomidine, eines gefährlich­en und wirkungslo­sen Medikament­s, das die Afrikaner vor der „Schlafkran­kheit“retten sollte – ein dunkles Kapitel unserer einst glorreiche­n Kolonialme­dizin. Dabei wurde dieses endemische Leiden durch die erzwungene Ausbeutung des Kautschuks dramatisch verbreitet.

Mehr als mit Ethnizität­sbegriffen will Frankreich mit sozialen Maßnahmen die Probleme anfassen. Eine geschickte Stadtverwa­ltung – Paris, wo die Immobilien­preise für viele unerschwin­glich geworden sind, möchte von den Wiener Gemeindeba­uten lernen – ist sicher ein Schlüssel in dieser komplexen Situation, die den Rechtspopu­listen zugutekomm­t.

Bildungssy­stem verbessern

Wichtig ist auch die Verbesseru­ng des Ausbildung­ssystems, das bis jetzt mehr ausgrenzt, als es integriere­nd wirkt. Seit der Wahl Emmanuel Macrons hat kaum eine Entscheidu­ng seiner Regierung so viel Zustimmung erhalten wie die starke Verkleiner­ung der ersten Volksschul­klasse in „schwierige­n“Vierteln. So weit, so gut.

Für den Jugendlich­en, der seine Lehrerin mit einer Pistole bedroht hat, ist es zu spät, bei jüngeren Kindern könnte es gelingen. Denn die „koloniale Nemesis“ist keine Fatalität.

JOËLLE STOLZ war lange Jahre Korrespond­entin von „Le Monde“in Österreich und Zentraleur­opa, Nigeria und Mexiko. Zuvor hatte sie bis 1992 für die Tageszeitu­ng „Libération“gearbeitet.

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Foto: Gil Lefauconni­er Stolz: Die Last der Kolonialis­ierung wiegt schwer.

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