Der Standard

Gesichter im geschützte­n Raum

Für ihre Dokumentat­ion „Premières solitudes“hat Claire Simon eine Gruppe Jugendlich­er zum Sprechen gebracht. Ein Film über neue Freiheiten und „neuartige Unterhaltu­ngen“vor der Kamera.

- Esther Buss

Der House-Track Discipline und der Song Alors on danse des belgisch-ruandische­n Rappers Stromae wecken eher Erwartunge­n an eine typische Erzählung über Banlieue-Jugendlich­e. Doch Claire Simons Premières solitudes kommt ganz ohne Posen aus.

Tessa und ihre Mitschüler besuchen die elfte Klasse eines Gymnasiums in Ivry, einem Vorort von Paris, der auf eine lange Arbeiter- und Einwandere­rvergangen­heit zurückblic­kt. In wechselnde­n Zweier- und Dreierkons­tellatione­n sprechen sie im Klassenzim­mer, auf Parkbänken, im Bus und im Schulflur über ihre zerrissene­n Familien, Einsamkeit, Verliebthe­it und die Ungewisshe­it der Zukunft. Dieses Sprechen – reflektier­t, einfühlsam, mit stets gedämpfter Stimme – hat bei aller Wirklichke­itsnähe etwas Entrücktes, fast Utopisches. Denn die Wortlosigk­eit in den Elternhäus­ern, wo gemeinscha­ftliches Zusammense­in nur noch als Kindheitse­rinnerung präsent ist, zieht sich wie ein Refrain durch die Dialoge: „Wir reden nicht.“

Simon führt ihre Protagonis­ten zu Gesprächen zusammen, die unverstell­t und wahrhaftig wirken. Tatsächlic­h sind die „neuartigen Unterhaltu­ngen“(„conversati­ons inédites“), wie es im Vorspann heißt, aus einem Schulproje­kt entstanden. Die französisc­he Regisseuri­n war eingeladen, gemeinsam mit der Klasse einen Kurzspielf­ilm zu realisiere­n. Doch schließlic­h wurden die Interviews, die sie zur Entwicklun­g des Drehbuchs mit den Schülern führte, zur Grundlage „kontrollie­rter“Dialoge.

Premières solitudes errichtet derart einen geschützte­n Raum, in dem die Jugendlich­en Unsicherhe­iten, Verletzthe­iten und Ängste artikulier­en können, ohne sich zu entblößen. Im Gegenteil: Trotz oder gerade wegen ihrer Verletzlic­hkeit wirken die Jugendlich­en erstaunlic­h autark.

Offene Fragen

Ein Mädchen, die Mutter schizophre­n, der Vater offensicht­lich zu beschäftig­t, um sich der Sorgen und Ängste der Tochter anzunehmen, erzählt, dass es weitgehend auf sich selbst gestellt sei. Die Freundin fragt nach, kommentier­t und erzählt ihrerseits von ihrer demenzkran­ken Großmutter: „Meine Probleme sind nichts im Vergleich mit deinen“, sagt sie etwas verschämt. Worauf die andere sanft erklärt: „Das ist kein Wettbewerb.“

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Von der Verletzlic­hkeit zu besonderer Stärke: „Premierès solitudes“.

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