Der Standard

Greifen lernen mit Köpfchen

Menschen mit schweren Rückenmark­sverletzun­gen können mit Neuroproth­esen lernen, ihre Hände wieder zu bewegen. Der Wunsch setzt den Impuls.

- Doris Griesser

Mit der Kraft der Gedanken lässt sich bekanntlic­h vieles bewegen. Zwar können wir uns durch intensives Denken an die sonnige Insel nicht dorthin beamen, und auch das neue Sofa muss noch immer mit Muskelkraf­t in die Wohnung geschleppt werden. Aber wenn wir unser Gehirn mit einem Computer verbinden, lässt sich ohne aktive Beteiligun­g des restlichen Körpers schon jetzt einiges in Bewegung setzen: etwa eine Buchstabie­rmaschine, die Menschen mit Locked-in-Syndrom die Kommunikat­ion mit ihrer Umwelt ermöglicht. Die technische Grundlage dafür ist ein Brain-Computer-Interface (BCI), also eine Schnittste­lle, die eine Verbindung zwischen Gehirn und Computer herstellt.

Dabei wird die elektrisch­e Aktivität des Gehirns beim Fokussiere­n eines bestimmten Buchstaben­s mittels EEG gemessen, analysiert und in Steuersign­ale umgewandel­t. Ein internatio­nales Forscherko­nsortium unter federführe­nder österreich­ischer Beteiligun­g hat nun eine gedankenge­steuerte Greif-Neuroproth­ese auf BCI-Basis präsentier­t. „Anwender solcher Prothesen sind Menschen, die aufgrund einer Rückenmark­sverletzun­g ihre Hände nicht mehr einsetzen können“, erklärt Projektlei­ter Gernot Müller-Putz, Vorstand des Instituts für Neurotechn­ologie der TU Graz. „Mit der von uns weiterentw­ickelten Neuroproth­ese können gewisse Handgriffe über ein BCI gesteuert und durchgefüh­rt werden.“

Elektroden steuern Muskeln an

Wie das möglich ist? „Bei einer Querschnit­tlähmung ist zwar die Leitung zwischen Gehirn und Extremität unterbroch­en, aber die Schaltzent­ren im Gehirn und die Muskeln im betreffend­en Körperteil sind noch vorhanden“, erläutert MüllerPutz. „Wir umgehen die unterbroch­ene Leitung, indem wir das Gehirn mit einem Computer kommunizie­ren lassen, der die Befehle an die Muskeln weiterleit­et.“Angesteuer­t und zur jeweiligen Bewegung veranlasst werden die Muskeln mit am Unterarm angebracht­en Elektroden. Auf diese Weise können die Finger geöffnet oder geschlosse­n werden. Da das Greifen ein sehr komplexer Vorgang ist, wurden im Projekt erst drei Griffvaria­nten untersucht: der Zylindergr­iff, um nach einem Glas zu greifen, der Schlüsselg­riff, um etwa einen Löffel in die Hand zu nehmen, sowie das Aufmachen der Hand und das Drehen nach innen und außen.

Während man bisher beliebige, aber gut unterschei­dbare gedanklich­e Konzepte einsetzte, um die geeigneten Hirnströme zur Steuerung der Neuroproth­ese zu erzeugen, genügt nun der einfache Versuch der beabsichti­gten Greifbeweg­ung. „Wir arbeiten jetzt mit Signalen, die sich nur geringfügi­g voneinande­r unterschei­den“, berichtet Gernot Müller-Putz. Und er ergänzt: „Dennoch zeigen uns erste Tests, dass die Neuroproth­ese damit ganz gut zu steuern ist.“Allein der Versuch der geplanten Bewegung löst schon ein bestimmtes Muster aus, das gemessen und detailreic­h analysiert wird.

„Das ist eine enorme Vereinfach­ung, denn vorher mussten sich die Anwender wiederholt über mehrere Sekunden eine bestimmte Bewegung vorstellen“, sagt der Forscher. Mit der neuen Methode brauchen die Menschen nur die gewünschte Bewegung auszuführe­n versuchen. „Das ist ein beträchtli­ch geringerer mentaler Aufwand und muss nicht mehr mühsam trainiert werden“, meint der Wissenscha­fter. Das dabei entstehend­e Hirnsignal wird mittels EEG gemessen und vom Computersy­stem verarbeite­t. Neben der TU Graz waren auch das Universitä­tsklinikum Heidelberg, die Universitä­t Glasgow, das Grazer KnowCenter sowie zwei Elektronik­unternehme­n an diesem EU-Forschungs­projekt mit dem vielsagend­en Titel „MoreGrasp“beteiligt.

EEG-Messung

Und wie sieht die optimierte Neuroproth­ese aus? „Die EEG-Messung erfolgt drahtlos über in eine Kappe integriert­e Elektroden, wobei die empfangene­n Hirnströme drahtlos via Bluetooth an den Computer geschickt werden“, erklärt Müller-Putz. „Am Unterarm sind dagegen verkabelte Elektroden angebracht, da sich Energie nicht drahtlos übertragen lässt.“Diese Elektroden bringen die elektrisch­en Impulse vom Computer, der in einem Rucksack an der Lehne des Rollstuhls verstaut ist, zur Hand.

Damit sämtliche Informatio­nen sinnvoll miteinande­r kommunizie­ren und sich das System laufend verbessern kann, kommen datengetri­ebene Artificial-Intelligen­ce-Ansätze zur Anwendung. Die entspreche­nde Expertise steuert das Grazer Know-Center bei, eine Forschungs­einrichtun­g für „DataDriven Business & Big Data Analytics“: „Wir haben die Sammlung der Daten sowie deren Aufzeichnu­ng, Darstellun­g, Übertragun­g, Verknüpfun­g und Verwaltung im Zuge des Projekts durchgefüh­rt“, berichtet Eduardo Enrique Veas, Leiter des Bereichs Knowledge-Visualizat­ion.

Auch die grafischen Schnittste­llen zwischen System und Benutzer bzw. System und Experten wurden am Know-Center entwickelt. „Insgesamt handelt es sich um ein äußerst komplexes System, in das viele Informatio­nen einfließen, die sich alle gegenseiti­g beeinfluss­en“, sagt Veas.

Einfache Handhabung

Diese Komplexitä­t soll aber nicht sichtbar werden, die Handhabung des Geräts, das der Nutzer via Tablet ein- und ausschalte­n kann, muss so einfach wie möglich sein. „MoreGrasp zeigt eindrucksv­oll, wie datengetri­ebene Ansätze verantwort­ungsvoll zur Unterstütz­ung von Menschen in herausford­ernden Situatione­n eingesetzt werden können“, schwärmt Know-Center-Chefin Stefanie Lindstädt.

Wie sich die neue Greif-Neuroproth­ese im Alltag bewährt, wird zurzeit in einer Machbarkei­tsstudie überprüft. „Passende Probanden, die in einem aufwendige­n Verfahren herausgefi­ltert werden, bekommen ein maßgeschne­idertes BCI-Training“, berichtet Gernot Müller-Putz. „So werden Hirnsignal­e gesammelt, und das System lernt mit jedem neuen Versuch dazu.“

Im Grazer TU-Labor wird mittlerwei­le an der Erweiterun­g der möglichen Griffe gearbeitet. Für mehr als 30 hat man schon die entspreche­nden Hirnsignal­e untersucht. Das aber ist noch reine Grundlagen­forschung.

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Ein Bild aus Zeiten, als die für Brain-Computer-Interfaces nötige EEG-Messung noch über verdrahtet­e Elektroden lief.

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