Flickwerk Palliativversorgung
Herr Weber weiß, dass er bald sterben wird. Er hat ALS. Darum braucht er Unterstützung. Wie man die finanzieren soll, ist noch unklar. Die Palliativversorgung ist in Österreich ein Flickwerk.
Durch die Pilgramgasse ist Emil Weber damals gerade geradelt, auf seinem Canyon-Bike, es war kalt. Er merkte, dass er die Finger seiner rechten Hand nach dem Bremsen nicht mehr zurückbewegen konnte, und musste sie mit der linken Hand wieder aufbiegen. Im November 2016 war das. Drei Monate später bekam er die Diagnose ALS – amyotrophe Lateralsklerose, eine seltene, aber unheilbare Nervenkrankheit, die durch die weltweite Spendenaktion Ice-Bucket-Challenge bekannt wurde. Bei der Diagnose betrug Emil Webers statistische Lebenserwartung zwei bis vier Jahre.
Heute sitzt er an einem großen Esstisch im hellen Erkerraum einer Wohnung im dritten Bezirk, er lebt hier mit seiner Frau Regina Weber. Sie legt Herr Webers Hände auf den Esstisch, wenn ihm die Kraft dazu fehlt, und übernimmt das Sprechen, wenn die Wörter nicht richtig aus seinem Mund kommen.
„Ich will hier nicht weg“, sagt er und lacht. Seit den Achtzigern wohnen die beiden in dieser Wohnung. Um die paar Stufen zum Lift hochzukommen, brauchen sie nun „die Raupe“, ein Gerät, mit dem Herr Weber samt Rollstuhl die Treppen hinaufklettert. In eine ebenerdige Wohnung umzuziehen kommt nicht infrage.
Seit Februar 2017, seit der Diagnose, sind Herr und Frau Weber auf Hilfe angewiesen. Sie nehmen sie dankbar an: Die Raupe ist eine Leihgabe vom ALS-Forum, die Stadt Wien half finanziell beim Umbau des Badezimmers, vom Fonds Soziales Wien bekam Herr Weber einen augengesteuerten Computer. Und hin und wieder kommt Franz Plasser vorbei.
50.000 Menschen betreut
Plasser ist einer von 317 Mitarbeitern des Mobilen Hospiz der Caritas Wien. Sie fahren zu Menschen nach Hause, die wissen, dass sie nicht mehr lange leben werden, und unterstützen sie medizinisch, pflegerisch und emotional. Fast 50.000 Menschen werden in Österreich palliativ betreut. Je rund 13.000 von Hospizteams, mobilen Palliativteams oder von Palliativkonsiliardiensten, fast 9000 in Palliativstationen und je ein paar Hundert in stationären oder Tageshospizen.
Wenn auch Frau Weber nicht versteht, was er meint, buchstabiert Herr Weber, setzt Mimik ein. Früher war er Unternehmensberater, erzählt er. Er wusste, wie er mit den Leuten reden musste. Die Freude am Reden ist ihm bis heute, mit Mitte 60, geblieben.
Und Plasser hat Freude am Zuhören. Hauptsächlich kommt er her, um mit den Webers zu spre- chen, gibt Ratschläge, wie sie den neuen Alltag verbessern können.
Das, was Plasser macht, die mobile Hospizarbeit, ist spendenfinanziert, genauso wie das Tageshospiz, in dem Kranke und ihre Angehörigen einzelne Tage verbringen können. Palliativstationen, in denen Todkranke Tag und Nacht verbringen, werden über Krankenhäuser finanziert – zumindest in Wien. Bundesweit ist die Palliativversorgung ein Flickwerk: Eine 15a-Vereinbarung lässt den Ländern Spielraum, eine österreichweite Regelung gibt es nicht.
Zu Allerheiligen forderte die Diakonie einheitliche Standards und eine flächendeckende Finanzierung. Die Direktorin der Diakonie Österreich, Maria Katharina Moser, fordert einen „Rechtsanspruch, verankert zum Beispiel in der Krankenversicherung“.
Im aktuellen Regierungsprogramm stehen der „Ausbau der Kapazitäten für Hospiz- und Palliativpflege“und die „nachhaltige und effektive Finanzierung ab dem Jahr 2022“. Derzeit sucht das Hospiz- und Palliativforum nach einer Möglichkeit der öffentlichen Finanzierung.
2700 Kilometer geradelt
Früher machte Herr Weber viel Sport. Noch im Vorjahr radelte er fünf Wochen lang entlang der wichtigsten Flüsse Österreichs, 2700 Kilometer, 22.000 Höhenmeter. 16 Freunde organisierten sich so, dass er nie allein radelte. Später schrieb Herr Weber ein Buch über diese Tour, 16 Kopien fertigte er an. Der erste Satz im Vorwort: „Ich bin froh, dass ich diese Zeilen noch schreiben kann.“