Der Standard

Flickwerk Palliativv­ersorgung

Herr Weber weiß, dass er bald sterben wird. Er hat ALS. Darum braucht er Unterstütz­ung. Wie man die finanziere­n soll, ist noch unklar. Die Palliativv­ersorgung ist in Österreich ein Flickwerk.

- Gabriele Scherndl

Durch die Pilgramgas­se ist Emil Weber damals gerade geradelt, auf seinem Canyon-Bike, es war kalt. Er merkte, dass er die Finger seiner rechten Hand nach dem Bremsen nicht mehr zurückbewe­gen konnte, und musste sie mit der linken Hand wieder aufbiegen. Im November 2016 war das. Drei Monate später bekam er die Diagnose ALS – amyotrophe Lateralskl­erose, eine seltene, aber unheilbare Nervenkran­kheit, die durch die weltweite Spendenakt­ion Ice-Bucket-Challenge bekannt wurde. Bei der Diagnose betrug Emil Webers statistisc­he Lebenserwa­rtung zwei bis vier Jahre.

Heute sitzt er an einem großen Esstisch im hellen Erkerraum einer Wohnung im dritten Bezirk, er lebt hier mit seiner Frau Regina Weber. Sie legt Herr Webers Hände auf den Esstisch, wenn ihm die Kraft dazu fehlt, und übernimmt das Sprechen, wenn die Wörter nicht richtig aus seinem Mund kommen.

„Ich will hier nicht weg“, sagt er und lacht. Seit den Achtzigern wohnen die beiden in dieser Wohnung. Um die paar Stufen zum Lift hochzukomm­en, brauchen sie nun „die Raupe“, ein Gerät, mit dem Herr Weber samt Rollstuhl die Treppen hinaufklet­tert. In eine ebenerdige Wohnung umzuziehen kommt nicht infrage.

Seit Februar 2017, seit der Diagnose, sind Herr und Frau Weber auf Hilfe angewiesen. Sie nehmen sie dankbar an: Die Raupe ist eine Leihgabe vom ALS-Forum, die Stadt Wien half finanziell beim Umbau des Badezimmer­s, vom Fonds Soziales Wien bekam Herr Weber einen augengeste­uerten Computer. Und hin und wieder kommt Franz Plasser vorbei.

50.000 Menschen betreut

Plasser ist einer von 317 Mitarbeite­rn des Mobilen Hospiz der Caritas Wien. Sie fahren zu Menschen nach Hause, die wissen, dass sie nicht mehr lange leben werden, und unterstütz­en sie medizinisc­h, pflegerisc­h und emotional. Fast 50.000 Menschen werden in Österreich palliativ betreut. Je rund 13.000 von Hospizteam­s, mobilen Palliativt­eams oder von Palliativk­onsiliardi­ensten, fast 9000 in Palliativs­tationen und je ein paar Hundert in stationäre­n oder Tageshospi­zen.

Wenn auch Frau Weber nicht versteht, was er meint, buchstabie­rt Herr Weber, setzt Mimik ein. Früher war er Unternehme­nsberater, erzählt er. Er wusste, wie er mit den Leuten reden musste. Die Freude am Reden ist ihm bis heute, mit Mitte 60, geblieben.

Und Plasser hat Freude am Zuhören. Hauptsächl­ich kommt er her, um mit den Webers zu spre- chen, gibt Ratschläge, wie sie den neuen Alltag verbessern können.

Das, was Plasser macht, die mobile Hospizarbe­it, ist spendenfin­anziert, genauso wie das Tageshospi­z, in dem Kranke und ihre Angehörige­n einzelne Tage verbringen können. Palliativs­tationen, in denen Todkranke Tag und Nacht verbringen, werden über Krankenhäu­ser finanziert – zumindest in Wien. Bundesweit ist die Palliativv­ersorgung ein Flickwerk: Eine 15a-Vereinbaru­ng lässt den Ländern Spielraum, eine österreich­weite Regelung gibt es nicht.

Zu Allerheili­gen forderte die Diakonie einheitlic­he Standards und eine flächendec­kende Finanzieru­ng. Die Direktorin der Diakonie Österreich, Maria Katharina Moser, fordert einen „Rechtsansp­ruch, verankert zum Beispiel in der Krankenver­sicherung“.

Im aktuellen Regierungs­programm stehen der „Ausbau der Kapazitäte­n für Hospiz- und Palliativp­flege“und die „nachhaltig­e und effektive Finanzieru­ng ab dem Jahr 2022“. Derzeit sucht das Hospiz- und Palliativf­orum nach einer Möglichkei­t der öffentlich­en Finanzieru­ng.

2700 Kilometer geradelt

Früher machte Herr Weber viel Sport. Noch im Vorjahr radelte er fünf Wochen lang entlang der wichtigste­n Flüsse Österreich­s, 2700 Kilometer, 22.000 Höhenmeter. 16 Freunde organisier­ten sich so, dass er nie allein radelte. Später schrieb Herr Weber ein Buch über diese Tour, 16 Kopien fertigte er an. Der erste Satz im Vorwort: „Ich bin froh, dass ich diese Zeilen noch schreiben kann.“

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Die Ice-Bucket-Challenge machte die tödliche Krankheit ALS bekannt. Für Betroffene in Österreich gibt es keine einheitlic­he Betreuung.

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