Der Standard

Orson Welles’ Vermächtni­s bei Netflix

Der geniale Regisseur hinterließ um die hundert Stunden Material für einen unvollende­ten Film mit dem Titel „The Other Side of the Wind“. Auf Umwegen ist das Werk nun bei Netflix gelandet.

- Bert Rebhandl

Als Orson Welles, der geniale Schöpfer von Citizen Kane, 1985 starb, hinterließ er um die hundert Stunden Material für einen unvollende­ten Film mit dem Titel The Other Side of the Wind. Im Lauf der Jahre wurde dieses Vermächtni­s selbst zu einem Mythos: eine weitere Ruine am Ende einer Karriere, die wesentlich mit ruinierten Filmen verbunden ist. The Magnificen­t Amber

sons oder Touch of Evil gelten bis heute als Exempla für die Schwierigk­eiten der Filmkunst in einer kommerziel­len Industrie. In beiden Fällen hatte Welles sich mit seinen Vorstellun­gen nicht durchsetze­n können. Bei The Other Side of the

Wind hatte er hingegen alle Freiheiten, weil niemand mehr wirklich bereit war, ihm Geld anzuvertra­uen. So war Welles zu einer Lowbis No-Budget-Produktion gezwungen, für die er immer dann drehte, wenn von irgendwohe­r Filmmateri­al oder eine Quersubven­tion auftauchte oder wenn ein paar Darsteller gerade Zeit hatten. Nun legt eine Gruppe von damals bereits Beteiligte­n eine Version von The

Other Side of the Wind vor, die sich wohl schnell als die verbindlic­he durchsetze­n wird.

Dazu tragen auch die ganzen Umstände bei: Auf vielen Umwegen ist der letzte

Film von Welles bei Netflix gelandet, wo er nun – begleitet von der Dokumentat­ion They’ll Love Me When I’m

Dead – das arg ausgedünnt­e filmhistor­ische Portfolio des Streamingg­iganten ein wenig aufwerten soll. Noch liegt die Zeit ja gar nicht lang zurück, da Netflix zuerst einmal das amerikanis­che Publikum mit der Geschichte des Kinos versorgte – in Form von DVDs, die der Briefträge­r brachte und später wieder mitnahm.

Film im Film

Inzwischen setzt Netflix vorwiegend auf originalen Content und trägt damit implizit selbst dazu bei, dass das Werk von Welles weitgehend verschwund­en bleibt – nur zwei Regiearbei­ten hält Netflix vorrätig. Bei The Other Side of the Wind

wird er nun offiziell auch als Regisseur genannt, was natürlich nur die halbe Wahrheit ist. De facto muss man die Liste der Beteiligte­n genau studieren, um in etwa vermuten zu können, wer sich hier wie eingebrach­t hat: der Filmemache­r Peter Bogdanovic­h, der Produzent Frank Marshall, der Cutter Bob Murawski.

Schon in der noch von Welles selbst konzipiert­en Form bestand The Other Side of the Wind im Grunde aus zwei Filmen: In dem einen feiert der HollywoodV­eteran Jake Hannaford, ein veritabler Macho-Regisseur, seinen 70. Geburtstag in einem Taumel von Party und Arbeit. In dem anderen Film (im Film) ist zu sehen, wie das letzte Werk von Hannaford aussehen sollte: ein europäisch­er „art film“, in dem Oja Kodar, die letzte Lebensgefä­hrtin von Welles, meistens nackt im Bild ist.

Natürlich handelt es sich um eine Hypothese, es lässt sich aber absehen, dass der Streit über diese Fassung nicht ans Eingemacht­e gehen muss. Wer zum Beispiel

F for Fake kennt, diesen hochreflex­iven, rasant geschnitte­nen Film über einen Kunstfälsc­her, der bisher als letzter Welles-Film galt, der wird deutliche Parallelen zu The Other Side of the Wind erkennen, der sich durch die formale Nähe zu dem vorhandene­n Spätwerk auch legitimier­t.

Die Rekonstruk­tion wird nun als Triumph vermarktet, dabei gibt aber gerade der Präsentati­onsort auch Anlass zu Rückfragen. Denn Netflix als Streamingp­ortal wäre ja eigentlich der ideale Ort, um The Other Side of

the Wind auch unter anderen Aspekten vorzustell­en als mit einer unterschob­enen Ausgabe „letzter Hand“. Für eine Beschäftig­ung mit Genese und Varianten hätte ein Portal mit latent unendliche­n Möglichkei­ten der optimale Ort sein können.

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