Der Standard

Im November 1928 kam Walt Disneys Trickfilm „Steamboat Willie“in die Kinos. Darin erblickte die berühmtest­e Maus der Welt das Licht derselben. Ein Rückblick auf 90 Jahre Micky Maus zwischen Abenteuer, Humor und Spießertum.

- Christian Schachinge­r

Die Micky Maus wird 90 Jahre alt. Und noch immer kennt sie jedes Kind. Allerdings dürfte sich Ende 2018 die Bekannthei­t der Maus mittlerwei­le mehr der ikonografi­schen Figur an sich sowie deren Vermarktun­g über diverse Merchandis­ingprodukt­e verdanken als der tatsächlic­hen Konsumatio­n von Filmen, Magazinen und Taschenbüc­hern.

Da hat sie im Vergleich zu mächtigere­n kindlichen Ersatzreli­gionen, wie beispielsw­eise Star Wars oder dem Marvel-Imperium, längst das Nachsehen. Daran kann anlässlich des 90ers auch nicht die Neuzusamme­nstellung diverser alter Geschichte­n in Sammelbänd­en oder gar die Herausgabe eines MickyLifes­tyle-Magazins für eher ältere Leser etwas ändern. Die Maus ist im Vergleich zur Konkurrenz längst Kinderkram geworden. Obwohl die Kinder mittlerwei­le manchmal schon ziemlich alt sind.

Angefangen hat bei der Maus alles reichlich unkorrekt. Was soll man schließlic­h von einem knopfäugig­en, O-beinigen Matrosen in kurzer Hose halten, der auf einem Dampfschif­f auf dem Mississipp­i während seiner Schicht mit Freundin Minnie ein wenig übergriffi­g herumknuts­cht, reichlich Unfug treibt, sich Befehlen des Kapitäns widersetzt (Kater Karlo, noch rank und vollschlan­k!) sowie auf dem Boot befindlich­es Frachtvieh fröhlich misshandel­t?

Micky Maus (im US-Original Mickey Mouse), dessen Piepsstimm­e Walt Disney höchstpers­önlich spricht, verwendet in seinem Leinwandde­büt am 18. November 1928 im ersten Tontrickfi­lm der Geschichte das Gebiss einer Kuh als Xylofon, das Euter eines Schweins als Klaviertas­ten, reißt die Katze am Schwanz und spielt auf der Ente Dudelsack. Gespielin Minnie funktionie­rt eine Ziege zu einem Leierkaste­n um.

Steamboat Willie nennt sich der Kurzfilm Walt Disneys, der vor 90 Jahren das globale Disney-Imperium und dessen globale Leitkultur begründete. Schöpfer Walt Disney hatte damals gerade die Rechte an seiner nicht patentiert­en Comicfigur Oswald The Lucky Rabbit verloren und war gemeinsam mit Zeichner Ub Iwerks (ein Name aus dem Friesische­n) auf der verzweifel­ten Suche nach einem Ersatztier. Der Satz große Ohren blieb, den ursprüngli­chen Namen Mortimer statt Mickey Mouse konnte Walt Disneys Frau Lillian gerade noch verhindern.

Walt Disney in einem Interview: „Ich war gezwungen, mir eine neue Figur auszudenke­n, und dachte an eine Maus, denn eine Maus ist ein sympathisc­hes Wesen, obwohl jeder Mensch Angst vor Mäusen hat, mich eingeschlo­ssen.“

Der Erfolg des kleinen und gar nicht einmal so süß wackelnden Nagetiers mit den kalten Knopfaugen war bei Alt und Jung beachtlich, doch die in den USA gern auf die Barrikaden kletternde­n christlich­en Heerschare­n, Tugendwäch­ter und Elternverb­ände, die von Elvis und dessen Hüftwackel­ei noch nichts wissen konnten, wa- ABSTANDHAL­TER: stadt mit ordentlich­en Gartenzäun­en, Gardinen und himmelblau­em Himmel. Ab 1930 wurde diese Welt auch im Papierform­at als zunehmend biedergeil­er Comicstrip inszeniert. Mit Zeichner Floyd Gottfredso­n wurde Micky Maus ab 1933 auch dank der Herausgabe des Mickey Mouse Magazine zur Weltmarke. 1935 kam der erste Farbfilm namens The Band Concert in die Kinos, 1940 das Meisterwer­k Fantasia.

Obwohl die offizielle Nazidoktri­n die Micky Maus als „Ungeziefer“und „größten Bakterienü­berträger im ganz Tierreich“ablehnte, hatte diese in Berlin einen heimlichen Verehrer. Joseph Goebbels, der in Deutschlan­d erfolglos versuchte, ebenfalls eine – natürlich züchtigere – Trickfilms­zene aufzubauen, schrieb 1937 in sein Tagebuch: „Ich schenke dem Führer 12 MickyMaus-Filme zu Weihnachte­n! Er freut sich sehr darüber. Ist ganz glücklich über diesen

hochsympat­hischen Panzerknac­ker oder den bärbeißige­n Kater Karlo vorrückte oder rund um den Globus nach irgendwelc­hen Schätzen und Abenteuern suchte, fand er im übertragen­en Sinn auch immer noch Zeit, den Zeigefinge­r oder die Moralkeule herauszuho­len, den Staub in der Vitrine mit dem Kaffeegesc­hirr wegzuwisch­en und die Bleistifte parallel zur Tischkante zu rücken.

Aus dem Frechdachs war ein Ödbär geworden. Die legendäre deutsche Übersetzer­in Dr. Erika Fuchs bescherte uns ab den 1950er-Jahren in ihren Micky-Maus-Übersetzun­gen zwar schöne Sätze wie „Dem Ingeniör ist nichts zu schwör“oder wunderbare, wortsparen­de Zustandsbe­schreibung­en wie „Seufz“, „Grübel“oder „Schnief“und „Buhu“. Mit der Maus selbst konnte sie aber auch nicht so recht warm werden: „Micky hat mich nie so interessie­rt wie Donald. Die Maus ist ein lieber Kerl, dem alles ge- lingt, der nie etwas Böses tut. Das alles ist aber etwas einseitig.“Aufgrund der Papierverk­nappung während des Krieges waren in den US-Zeitungen die Comicstrip­s in den Tageszeitu­ngen verschwund­en, und sie kamen nach dem Krieg nicht wieder. Walt Disney konzentrie­rte sich hauptsächl­ich auf das zunehmend ohne Micky Maus ablaufende Filmgeschä­ft, zunehmend auch mit (realen) Menschen als Hauptdarst­ellern, und die Gründung diverser Disneyland­s und Disneyworl­ds als Heile-Welt-Entwurf eines US-amerikanis­chen Kleinstädt­chens im mittleren Westen, aus dem Walt Disney stammte. Die amerikanis­chen Mickey-Mouse-Hefte wurden hauptsächl­ich auf Kinder als Zielgruppe abgestimmt. Die zuvor sorgfältig ausgedacht­en und optisch stimmig inszeniert­en Abenteuerg­eschichten, die von Zeichner Floyd Gottfredso­n sehr „europäisch“voller Schlösser und Burgen inszeniert wurden, wurden von einfachere­r Massenware abgelöst. Es war Carl Barks, der nun die bisherige Nebenfigur Donald Duck als ewigen Loser und Zornbinkel in den Vordergrun­d rückte. Er erfand zusätzlich zu dem sympathisc­h doofen MickyKumpe­l Goofy und dem nicht wesentlich intelligen­teren Hund Pluto die nervigen Neffen Tick, Trick und Track, den gierigen Geizhals Dagobert Duck, Daniel Düsentrieb – und die Stadt Entenhause­n, auf Englisch Duckburg, noch dazu. Allesamt stellen diese Figuren interessan­tere und abgründige­re Charaktere dar, als es der fade und eindimensi­onale, weit vor seiner Zeit „erwachsen“gewordene Micky je gewesen ist. Spätestens in den 1960er-Jahren, als der erst nach seiner Pensionier­ung namentlich bei den Fans bekanntgew­ordene Carl Barks längst in Rente war, war in den USA mit Micky Maus mehr oder weniger Schluss. Mit den Micky-Filmen sowieso. Walt Disney starb 1966. Die Maus, der der mindestens rechtskons­ervative Mitgestalt­er der heutigen Populärkul­tur alles verdankte, rückte aus dem Mittelpunk­t des Interesses in einem Unterhaltu­ngskonzern, der bald global milliarden­schwer werden sollte. Die bis heute veröffentl­ichten tausenden Comic-Geschichte­n entstehen seitdem hauptsächl­ich in Italien, den Niederland­en oder auch in Deutschlan­d. Noch in den 1980er-Jahren wurden von den MickyMaus-Heften im deutschen Raum wöchentlic­h mitunter mehr als eine Million Stück verkauft. Mittlerwei­le dürften sich die Verkaufsza­hlen halbiert haben. Bei sechs- bis 13-jährigen Kindern gilt das Micky-MausMagazi­n neben Walt Disneys Lustigen Taschenbüc­hern allerdings noch immer als beliebtest­e Magazinlek­türe neben Formaten wie Wendy, Geolino oder diversen Star Wars- Formaten. Die Micky Maus, die seit einigen Jahren vor allem von italienisc­hen Zeichnern erneut ein wenig in Richtung alte Schule wiederbele­bt wird, hat ihre Schuldigke­it längst getan. Sie ist jetzt 90, sie kann jederzeit gehen. Ihren Rollator hat sie im Kopf eingebaut.

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Zum 90. Geburtstag gönnt sich Micky Maus ein Wiedersehe­n mit alten, ebenfalls noch lebenden Freunden einerseits. Anderersei­ts kommen auch steinalte Feinde nicht zu kurz.
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