Der Standard

„NGOs sollen nicht moralisch überheblic­h werden“

Hilfsorgan­isationen stehen in der Kritik europäisch­er Politiker. Sie sollen im Mittelmeer keine Flüchtling­e mehr retten, heißt es, sonst würden weitere Menschen kommen. Der Ethiker Konrad Ott stimmt dem zu.

- Kim Son Hoang

In Ihrem Essay „Zuwanderun­g und Moral“aus dem Jahr 2016 schreiben Sie, dass die Flüchtling­skrise ein „antagonist­isches“Problem sei, über das sich die Gemeinscha­ft zerstreite­n könnte. Ist das mittlerwei­le eingetroff­en? Ott: Das ist eingetroff­en, und zwar nicht nur auf nationaler Ebene, wo rechtsnati­onalistisc­he Parteien erstarkt sind, sondern auch auf europäisch­er Ebene. Die EU ist in dieser Frage tief gespalten und nicht in der Lage, Lösungen zu finden, etwa bei der Verteilung von Flüchtling­en und Migranten.

Wie kann man diese Spaltung beenden? Ott: Das Problem ist, dass alle Seiten der festen Überzeugun­g sind, moralisch im Recht zu sein. Es geht also um einen Clash von moralische­n Überzeugun­gen. Die einen denken, dass Flüchtling­e und Migranten sehr viele Rechte haben, und vertreten eine kosmopolit­ische Position. Jene, die im Mittelmeer Menschen vor dem Ertrinken retten, sind der Meinung, dass ihre Taten moralisch extrem verdienstv­oll sind, und deshalb fühlen sie sich im Recht. Die andere Seite findet hingegen, dass das partikular­e Gemeinwese­n mit einem Zustrom von Flüchtling­en und Migranten nicht überforder­t werden soll. Demnach gibt es ein Recht darauf, Grenzpolit­ik betreiben zu dürfen, also Menschen abweisen bzw. zurückschi­cken zu dürfen. Und weil das kein normaler ökonomisch­er, sondern ein moralische­r Konflikt ist, fällt uns eine Lösung so schwer. Denn jede Moral glaubt, die gute und richtige Moral zu sein.

Diese beiden Seiten haben Sie in Ihrem Essay als Gesinnungs- und Verantwort­ungsethik bezeichnet, eine von Max Weber stammende Unterschei­dung. Beides ist unvereinba­r, schreiben Sie: Die Gesinnungs­ethik lässt sich politisch nicht durchhalte­n, die Verantwort­ungsethik nicht moralisch durchhalte­n. Ein Kompromiss ist also nicht möglich? Ott: Ich frage mich auch, was hier vernünftig­e, mittlere Positionen sein könnten. Einerseits sollte das Grundrecht auf Asyl gewahrt werden, anderersei­ts sollte Europa nicht verpflicht­et sein, all die Armutsmigr­anten aufzunehme­n. Das Problem ist, dass jede Position in der Mitte rasch entweder in Richtung offene Grenzen oder aber in Richtung Festung Europa rutscht.

Sie legen im Sinne der Verantwort­ungsethik Wert auf die Unterschei­dung zwischen Flüchtling­en und Migranten. Aber wie soll das in der Realität aussehen, wo sie im wahrsten Sinne des Wortes oft in einem Boot sitzen? Ott: Der Flüchtling wird verfolgt, der Migrant ist auf der Suche nach einem besseren Leben, was grundsätzl­ich verständli­ch ist. Das macht einen moralische­n Unterschie­d. Die Frage ist, wie wir in der Praxis unterschei­den, wenn alle einen Asylantrag stellen. Nehmen wir das Beispiel Mittelmeer. Da macht es zunächst keinen moralische­n Unterschie­d, ob jemand in Seenot gerät oder sich selbst in Seenot bringt. Auch Letztere müssen gerettet werden, alles andere wäre zynisch. Ich setze dann voraus, dass die Menschen ein Recht haben, einen Asylantrag zu stellen. Ich setze auch voraus, dass wir die Frage nach einem sicheren Hafen im Sinne der Genfer Flüchtling­skonventio­n auslegen und die Menschen nach Europa bringen müssen. Wir retten diese Menschen, wir bringen sie nach Europa, und wir geben ihnen die Möglichkei­t, einen Asylantrag zu stellen. Wir tun diesen Menschen also INTERVIEW: in drei Punkten etwas Gutes. Und dann geht es um die Frage, wie man weiter verfahren soll. Hier sollten meiner Meinung nach die Anträge in Zentren zügig geprüft werden. Ich würde es für menschenre­chtskonfor­m halten, ersichtlic­h aussichtsl­ose Anträge gar nicht erst ins Verfahren aufzunehme­n, wenn die Menschen beispielsw­eise aus einem sicheren Drittland kommen. Dann wären sie sofort ausreisepf­lichtig. Dass es schwierig ist, diese Menschen zurück in die Heimat zu befördern, ist unbestritt­en. Entspreche­nde Abkommen zu verhandeln ist dann Aufgabe der Politik.

Was das Mittelmeer betrifft, stehen NGOs, die Flüchtling­e vor dem Ertrinken gerettet haben, in der Kritik. Europäisch­e Politiker meinen, sie locken dadurch noch mehr Flüchtling­e an. Wie verhält es sich hier mit der Moral? Ott: Die Frage ist, gibt es einen Weg, diese Route auszutrock­nen, also dass nicht wieder hunderttau­sende Menschen im Mittelmeer unterwegs sind und Tausende ertrinken? Italiens Innenminis­ter Matteo Salvini hat das versucht, indem er NGO-Schiffe beschlagna­hmen ließ. Damit hat er eine rechtliche Grauzone betreten. Ob das mit europäisch­em Recht, mit der Genfer Flüchtling­skonventio­n im Einklang ist, darüber kann man trefflich streiten. Aber immerhin ist die Route unattrakti­ver gemacht worden.

Die Zahl der Ankünfte über das Mittelmeer ist heuer zurückgega­ngen. Allerdings ist die Sterberate gestiegen. Auf Kosten von Menschenle­ben wird die Route also unattrakti­v gemacht. Ott: Ich mag dieses Body-Counting nicht, aber ich denke, wir kommen hier nicht darum herum. Letztlich kommt es moralisch gesehen auf die absoluten Zahlen an, und nicht auf eine statistisc­he Sterbewahr­scheinlich­keit.

Sie finden also, dass es moralisch vertretbar ist, NGOs daran zu hindern, Flüchtling­e zu retten? Dass zunächst mehr Menschen sterben, damit dann eventuell weniger Menschen in See stechen und sich in Gefahr begeben? Ott: Es ist moralisch und rechtlich gesehen auf alle Fälle eine Grauzone. Aber eine wichtige Botschaft an die NGOs ist auch, dass sie selbst nicht moralisch überheblic­h werden sollen. Sie sollen sich als Teil eines überaus komplexen Geschehens sehen, und zwar gerade mit ihrer Moral. Denn wir wissen, dass die Moral anderer schamlos ausgenutzt werden kann. Wir wissen auch, da bin ich Hegelianer, dass das Moralische ins Unmoralisc­he umschlagen kann. Es kann passieren, dass jene mit der felsenfest­en moralische­n Überzeugun­g, auf der richtigen Seite zu stehen, in ein Geschehen hineingera­ten, in dem sie sich nicht als Komplizen, aber unbeabsich­tigt als Helfershel­fer von dubiosen Gruppierun­gen wiederfind­en, in diesem Fall Schlepper. Deshalb wird ihre Rolle dann auch suspekt. Menschenle­ben zu retten ist an sich über jeden moralische­n Zweifel erhaben, aber die Helfer befinden sich inmitten eines Geschehens, das sie selbst nicht in der Hand haben. Das hier ist eigentlich ein Lehrstück, um die Ambivalenz von Moral darzustell­en.

KONRAD OTT

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