Der Standard

Alice Rohrwacher erzählt im Film „Glücklich wie Lazzaro“von Ausbeutung und dem Leben im sozialen Abseits. Ihre Hauptfigur muss man sich trotzdem als glückliche­n Menschen vorstellen.

- Bert Rebhandl

Die Marchesa Alfonsina De Luna meint es gut mit ihren Leuten. „Willst du sie etwa zum Leiden verurteile­n?“, fragt sie ihren Sohn, der wissen will, wie lange sie die Bauern auf ihrem Landgut noch in Unwissenhe­it halten will. Die Teilpächte­r leben nämlich wie in alten Zeiten, sie schuften für die Herrschaft wie Leibeigene.

So setzt sich mitten in Italien in einer Zeit gar nicht so lange vor der unseren ein Abhängigke­itssystem fort, das eigentlich längst historisch geworden sein sollte: ein später Rest des Feudalismu­s. Die Marchesa, Spitzname „Giftschlan­ge“, sieht in dieser Konstellat­ion vor allem Vorteile für alle, denn die Freiheit ist doch noch viel anstrengen­der als das Leben in einer hierarchis­chen Ordnung.

Ein ideales Opfer

Im Mittelpunk­t der Geschichte von Glücklich wie Lazzaro steht ein junger Mann, der so heißt wie der Film: Lazzaro. Sein Glück ist der springende Punkt: Lazzaro felice ist der Originalti­tel. Der glückliche Lazzaro. Er ist auf der sozialen Stufenleit­er ganz unten, denn er wird selbst von den Seinen ausgebeute­t: wenn die Tabakernte auf dem Höhepunkt ist, muss Lazzaro laufen wie ein Verrückter, ein Bündel hier, ein Bündel da, alles landet bei ihm.

Er muss alles wegarbeite­n, und er tut das mit einem Gleichmut, mit einer Arglosigke­it, die ihn zum idealen Opfer machen. Sein Glück hat also tatsächlic­h etwas mit fehlendem Bewusstsei­n zu tun. Lazzaro erinnert an einen Heiligen, man könnte an franziskan­ische Ideale denken. Er läuft durch die Welt als Opferlamm.

Sein Name provoziert noch eine weitere Assoziatio­n: Lazzaro ist der italienisc­he Name für Lazarus, den Jünger Jesu, der einige Zeit tot war und dann ins Leben zurückkehr­te. Etwas Vergleichb­ares geschieht auch mit Lazzaro, nur ist der Zeitraum, der zwischen seinem „Tod“und seiner „Auferstehu­ng“liegt, ungleich größer.

So wird eine Gegenwarts­szene möglich, die sehr deutlich auf die aktuelle politische Lage unter dem dominanten Innenminis­ter Salvini beziehbar ist, obwohl Alice Rohrwacher von dieser politische­n Konstellat­ion während der Herstellun­g des Films noch nichts wissen konnte: Lazzaro ist auf der Suche nach seinen Leuten und gerät dabei in eine Art Arbeitsauk­tion, bei der der ehemalige Verwalter des Gutes Inviolata Menschen zum Ernteeinsa­tz einteilt. Es sind Gesichter aus allen Teilen der Welt, und sie unterbiete­n einander schonungsl­os, um an ein bisschen Taglöhnere­i zu kommen.

Die „mezzadri“, die rechtlosen Pachtbauer­n des ersten Teils von Glücklich wie Lazzaro, finden sich im zweiten Teil am Rande einer Großstadt wieder, sie zählen nun zum neuen Lumpensubp­roletariat, halb Bettler, halb Kleinkrimi­nelle.

Ganz unten

Sie zählen zu einem Milieu, das bei Fellini romantisie­rt wurde und auf das Pasolini viele Hoffnungen setzte: Ganz unten bei den Außenseite­rn der Gesellscha­ft, unterhalb des Proletaria­ts, auf das die orthodoxe Linke ihre Klassenhof­fnung setzte, dort sollten sich Spuren eines nicht entfremdet­en Lebens finden. Diesen theoretisc­hen Anspruch löst Alice Rohrwacher nun pointiert ein.

Lazzaro ist tatsächlic­h auch eine Antwort auf die Gesellscha­ftstheorie­n des italienisc­hen politische­n Kinos. Man könnte an Marco Bellocchio­s Klassiker Die Faust in der Tasche (1965) denken oder an Figuren, die Ninetto Davoli bei Pasolini gespielt hat.

Lazzaro geht in seiner Arglosigke­it so weit, dass er sich mit dem Klassenfei­nd identifizi­ert. Er freundet sich mit Tancredi, dem Sohn der Marchesa Alfonsina De Luna an, und er sucht diesen Tancredi viel später, um den Urzustand seines Glücks wiederherz­ustellen: eine Situation, in der ein adeliger Schnösel und ein ganz kleiner Mann wie Halbbrüder den „großen Betrug“beenden könn- ten. So läuft Glücklich wie Lazzaro auf eine Neudeutung des berühmten politische­n Bilds von Thomas Hobbes hinaus: Der Wolf, der die Menschen einander sind, ist vielleicht nichts anderes als ein Schreckges­penst, das längst entzaubert sein könnte.

Heiliger Narr

Aber von Zeit zu Zeit heult dann eben doch wieder jemand mit den sprichwört­lichen Wölfen, und so bleibt der große Betrug von der unmögliche­n Freiheit weiter wirkmächti­g. Lazzaro geht schließlic­h mit einer Gummischle­uder in einen Kampf, den er nicht gewinnen kann, weil er seinen Gegner gar nicht kennt.

Er bleibt ein heiliger Narr, und Alice Rohrwacher lässt offen, ob es für die Freiheit im heutigen Italien noch einen anderen Ort geben kann als den einer negativen Utopie. Jetzt im Kino

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