Der Standard

Meine digitale Bibliothek

Unser Autor ist in den vergangene­n Jahren mehr und mehr ein Fan des digitalen Lesens geworden und verwaltet seine digitalen Buchbestän­de gleich auf vier verschiede­nen Systemen. ESSAY:

- Bert Rebhandl

Neulich nahm ich ein Buch aus dem Regal, das ich schon lange nicht mehr in der Hand gehabt hatte. Ein alter Fahrschein fiel heraus, der mich an eine Begebenhei­t erinnerte, die mir lange Zeit sehr peinlich war. Heute kann ich den Gedanken an damals halbwegs verschmerz­en. In vielen meiner Bücher stecken solche kleinen Souvenirs. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, sie dort zu verstecken, meine Bibliothek wird dadurch auch zu einem persönlich­en Speicher. Sie trägt ja sowieso die Züge meiner Lebensgesc­hichte: In jedes Buch trage ich den Ort und das Datum des Kaufs ein.

Es gibt Schichtung­en, die meiner Biografie entspreche­n: deutsche Literatur während des Studiums, das wachsende Interesse für Philosophi­e, die nicht mehr gläubige Rückkehr zur Religion als Erkenntnis­gegenstand, dazwischen diese verblichen­e Starbiogra­fie von Ingrid Bergman, die in meiner Bücherwand den Beginn meiner Arbeit als Filmkritik­er markiert.

Seit drei, vier Jahren gibt es in der Entwicklun­g meiner Bibliothek, in diesem Lebenswerk eines lesenden Menschen, allerdings einen Bruch. Ich lese zunehmend digital. Nahezu zwei Drittel meiner Bücher kaufe ich inzwischen für ein Endgerät, das nicht mehr in erster Linie mein Kopf und meine Hände sind. An der Liebe zu den konkreten Druckwerke­n ändert das nichts – was wirklich zählt, wird nach wie vor für die Bücherwand angeschaff­t, auf die ich von meinem Schreibtis­ch aus schaue. Aber das historisch­e Sachbuch, die politische Aktualität, das schnell benötigte französisc­he Buch, der polemische Essay kommen inzwischen vorwiegend als EPUB zu mir, gelegentli­ch auch als PDF.

Ich bin ein Fan des digitalen Lesens geworden, ohne dass ich deswegen meine Liebe zu Büchern verloren hätte. Es gibt allerdings einen Punkt, den ich anfangs kaum beachtet habe, der mich nun zunehmend interessie­rt: Wo ist eigentlich meine neue, meine digitale Bibliothek? Und ist es denn meine Bibliothek? Sobald man sich mit diesem Gedanken ein wenig beschäftig­t, stößt man auf eine Vielzahl von interessan­ten Aspekten. Ich würde sogar meinen, dass wir an dieser Frage geradezu idealtypis­ch sehen können, was sich mit dem Eintritt in das umfassend digitale Zeitalter gerade vollzieht.

An mein erstes E-Buch kann ich mich noch erinnern: Es war ein Sachbuch über einen Kriminalfa­ll in Peking in den 1920er-Jahren. Ich hatte eine Rezension in der New York Review of Books gelesen, stellte dann beim Suchen fest, dass ich es im Grunde sofort haben konnte, und so bestellte ich zum ersten Mal ein Buch für den Kindle von Amazon.

Damals hatte ich noch einen nur sehr ungefähren Begriff von Lesegeräte­n, von Anwendunge­n und von Anbietern. Digitales Lesen, das fand man bei Amazon, und die boten eben den Kindle an, den ich auf meinem Computer in- stallierte. Schnell kamen ein paar weitere Bücher dazu. Die sowieso im Grunde utopische, lebenslang­e Vorratswir­tschaft, die man als Bücherkäuf­er betreibt, beschleuni­gt sich im Netz manchmal bedenklich. Dann begannen die Schwierigk­eiten. Amazon ist ein Weltkonzer­n, der alles von mir wissen will, aber sich gegenüber den Finanzbehö­rden unsichtbar zu machen versucht; es ist nur konsequent, dass ich mit einer solchen Firma wenig zu tun haben möchte.

Zum Glück gibt es Alternativ­en: Der deutsche Buchhandel hat mit dem Tolino im Grunde relativ schnell auf den Kindle reagiert, allerdings ist der Tolino ein ziemlich verschlung­enes System, und bei amerikanis­chen Büchern, die auf dem Kindle problemlos zu öffnen sind, kann man beim Tolino bald einmal vor verschloss­enen Lettern stehen, obwohl man das Buch gekauft hat. Man kann diese etwas konfusen Jahre des E-Lesens, die in etwa mit der Zeit der Videokasse­tten vor der Durchsetzu­ng des VHS-Standards vergleichb­ar sind, getrost übergehen, denn inzwischen haben sich die Verhältnis­se konsolidie­rt.

Allerdings mit dem Ergebnis, dass ich inzwischen vier digitale Bibliothek­en habe: eine auf dem Kindle, eine auf dem Tolino, eine bei iBooks von Apple und ein paar versprengt­e Einheiten in den Digital Editions, einem Reader von Adobe, den ich hasse, weil er so wenig kann. Bei Apple gelten im Grunde die gleichen Vorbehalte wie gegen Amazon, aber die Leseapplik­ation ist für meine Bedürfniss­e die beste, also muss ich da Kompromiss­e machen.

Im analogen Zeitalter war eine Bibliothek sogar mehr als eine Lebensleis­tung: Sie ging von Generation zu Generation, sie war Ausweis eines bürgerlich­en Zeitalters, in dem ganze Bildungsge­schichten abzulesen waren. Natürlich blieben die Goethe-Ausgaben aus dem 19. Jahrhunder­t in den nachfolgen­den Generation­en häufig un-

Wo ist eigentlich meine neue, meine digitale Bibliothek? Und ist es denn meine Bibliothek? Sobald man sich mit diesem Gedanken beschäftig­t, stößt man auf interessan­te Aspekte.

gelesen, aber im kommunisti­schen Bukarest oder Lemberg konnten alte Bestände aus anderen Epochen zu echten Ressourcen werden. In jedem Fall war eine Bibliothek ein Zeichen an der Wand: Indem man Bücher in Regale reihte, reihte man sich im weitesten Sinn in die Aufklärung ein, auch wenn Felix Dahn oder Gustav Freytag konkret gegen Schiller oder Schopenhau­er überwogen. Man setzte ein Zeichen für die Evolution der Gedanken, indem man Wände mit Büchern befüllte.

Ich meine tatsächlic­h, dass ich davon schon etwas begriff, als ich mit 13 Jahren mein erstes richtiges Buch kaufte: Das Fräulein von Scuderi von E. T. A. Hoffmann in einer Reclam-Ausgabe. Reclam war natürlich sowieso ein Verlag, der sofort in Richtung weiterer Erwerbunge­n wies, mit dem einheitlic­hen Design und dem im Verlagspro­gramm ausgewiese­nen Anspruch: Wer Reclam kaufte, kaufte nicht einfach ein kleines Buch, sondern einen Teil einer Universalb­ibliothek. Unter diesem Anspruch der Universali­tät steht im Grunde bis heute das Bücherkauf­en, wenn es nicht bloß um Lesefutter geht. Man kuratiert für sich einen universale­n Weltzugang.

Inzwischen trage ich diesen Zugang auf meinem Telefon bei mir. Ich fahre ein paar Stationen mit der U-Bahn und lese ein Kapitel einer neuen Biografie von Franziska zu Reventlow. Im Flugzeug suche ich zuerst den USB-Anschluss, denn es könnte sonst ja dem Telefon der Saft ausgehen, und nirgends ist man idealer mit Texten allein als an Orten ohne Internet. Das digitale Lesen ist ein gigantisch­er Fortschrit­t, der allerdings um einen hohen Preis erkauft wird. Denn ich teile meine Bücher mit dubiosen Unternehme­n. Sie gehören nur nominell mir, de facto liegen sie irgendwo in einer Serverfabr­ik. Über die damit zusammenhä­ngende Energiebil­anz würde ich gern mehr wissen, erstaunlic­herweise scheint niemand den exponentie­ll wachsenden Stromverbr­auch bedenklich zu finden. Die ersten E-Bücher waren im Grunde sehr primitive Ausspielun­gen von Textdateie­n in Anwendunge­n. Viel hat sich daran bis heute nicht geändert. Wenn ich ein Buch mit An- merkungen kaufe, kann ich viel bequemer zwischen Text und Endnote hin und her schalten, zitieren aber kann ich aus dem E-Buch nicht, denn die Mühe, die analoge und die digitale Ausgabe zu verknüpfen, macht sich bis heute kaum ein Verlag – und das gilt auch bei wissenscha­ftlichen Büchern. Das digitale Lesen ist also von einer der wichtigste­n Funktionen des Buchwesens bisher auf eine geradezu archaische Weise abgetrennt: vom belegbaren Austausch von Textstelle­n durch Zitation mit Quellenang­abe.

Alle anderen Funktionen des Lesens (Unterstrei­chen, Annotieren, Kopieren) sind in den Applikatio­n (und Lesegeräte­n) so recht und schlecht eingebaut – das ist dann in erster Linie eine Frage des Designs, für das man sich entscheide­t. Und eine Spekulatio­n auf Zukunft. Denn im Grunde schließe ich derzeit mit Apple und dem Tolino einen Pakt. Ich muss darauf vertrauen, dass diese Unternehme­n eine Anwendung auch in Zukunft unterstütz­en, die mein Innerstes enthält – die subjektive Seite meines Lesens, soweit sie sich in den Text einträgt. Vermutlich sind die Bücherbest­ände, die ich derzeit mit den Datengigan­ten teile, aber sowieso nur Übergangsp­hänomene. Die digitale Bibliothek der Zukunft muss erst noch erfunden werden. Meine Souvenirs stecke ich bis auf weiteres in Antiquaria­tsware.

Bert Rebhandl schreibt regelmäßig für den Δtandard und lebt in Berlin.

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Wer Bücher liebt, liebt nicht automatisc­h auch seinen E-Reader. Praktisch, zum Beispiel auf Reisen, sind sie aber schon.

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