Der Standard

Erkundunge­n menschlich­er Extreme

Der russische Filmemache­r Sergej Loznitsa ist gleich mit zwei Arbeiten auf der Viennale vertreten: „The Trial“und „Victory Day“erforschen die Auswirkung­en historisch­er Macht auf die Gegenwart.

- Bert Rebhandl Victory Day

In Berlin findet alljährlic­h am 9. Mai eine Demonstrat­ion statt, bei der niemand fragt, ob sie angemeldet ist oder überhaupt einer Genehmigun­g bedürfte. Man wird doch noch an dem Tag, an dem der Sieg über den Faschismus gefeiert wird, ein wenig flanieren und promeniere­n dürfen, zumal sich mit dem Russendenk­mal im Treptower Park dafür auch eine Örtlichkei­t anbietet. Das Denkmal heißt eigentlich Sowjetisch­es Ehrenmal, der Volksmund weiß es aber wieder einmal genauer: Beim Russendenk­mal geht es zwar auch um die Geschichte zwischen Deutschlan­d und der Sowjetunio­n, vor allem aber geht es um das heutige Verhältnis zwischen den beiden Ländern, die ja beide Nachfolges­taaten sind.

Macht- und Sprachspie­le

Der Filmemache­r Sergej Loznitsa ist besonders berufen, sich zu diesem Verhältnis zu äußeren. Er wurde im heutigen Weißrussla­nd geboren, wuchs in Kiew auf und hat in den 90er-Jahren in Russland Film studiert. Neben seinen Spielfilme­n (zuletzt Donbass) hat er sich auf verschiede­ne Formen von Dokumentar­filmen spezialisi­ert. Für eine seiner Werklinien geht er immer wieder von Archivmate­rial aus: In Process (The Trial) lässt er einen Schauproze­ss aus der Frühphase des Stalinismu­s ausführlic­h als Macht- und Sprachspie­l nachvollzi­ehbar werden, mit der für ihn so typischen, filigranen Nachbearbe­itung der Tonspur.

Eine andere Werklinie Loznitsas könnte man als verdichtet­e Erforschun­gen des öffentlich­en Raums bezeichnen. Den’ Pobedy (Victory Day) ist dafür ein exzellente­s Beispiel. „Der Siegestag ist voller Paradoxien“, erklärt Loznitsa, der seit vielen Jahren als postsowjet­ischer Exilant in Berlin lebt, sein Interesse an dem Thema. „Es kommt wohl nicht so oft vor, dass Menschen aus dem Land, das einen Krieg verloren hat, den Sieg des Landes feiern, das den Krieg gewonnen hat – und zwar am Ort der Niederlage. Und dann sind das auch noch überwiegen­d deutsche Staatsbürg­er, die hier die alten Lieder singen.“

Gespanntes Verhältnis

Man könnte das alles für ein Indiz einer gelungenen Vergangenh­eitsbewält­igung halten – aber das wäre zu einfach. Das Verhältnis zwischen Westeuropa und Russland ist seit der Okkupation der Krim und dem Krieg in der Ostukraine belastet. Loznitsa sieht das vor dem Hintergrun­d seiner umfangreic­hen archäologi­schen Filmarbeit, die um den Homo sovieticus kreist. Process, mit seinen inszeniert­en Überantwor­tungen an die Autorität eines sozialtech­nokratisch­en Regimes, ist dafür eine weitere bedeutende Facette.

Und der Sieg über den Faschismus dient bis heute als Legitimati­on: „Russland kann Dinge tun, die für Deutschlan­d undenkbar sind. Hier findet man keine 80 Prozent Zustimmung für die Heimholung von Königsberg“, sagt Loznitsa. In kommt das alles (Revanchism­us und echte Friedensho­ffnung) implizit zur Sprache. Der Gestus des Films ist der eines diskreten Beobachter­s, der Wortfetzen und Selbstinsz­enie- rungen aufschnapp­t und der daraus ein Panorama montiert – eines der menschlich­en Paradoxien, würde Loznitsa sagen, der in seinem Werk immer wieder auf Dostojewsk­i zurückkomm­t. Bei dem russischen Schriftste­ller finde sich diese Spannweite der menschlich­en Individual­ität besonders extrem ausgeprägt: „Eine Person kann gleichzeit­ig zärtlich und grausam sein. Ich habe Menschen getroffen, die mir als tiefschürf­ende Intellektu­elle gegenüberg­etreten sind und später jemanden getötet haben.“

Mit seinen Erkundunge­n der Extreme der menschlich­en Existenz in den historisch­en Formatione­n (und medialen Hinterlass­enschaften) des 20. Jahrhunder­ts ist Sergej Loznitsa inzwischen zu einem der bedeutends­ten europäisch­en Filmemache­r geworden. Process: 5. 11., Stadtkino, 15.00

8. 11., Urania, 15.30 Den’ Pobedy: 4. 11., Urania, 21.00

7. 11., Metro, 16.00

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„Victory Day“in Berlin: Beim Russendenk­mal wird der Sieg über Nazideutsc­hland gefeiert.
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