Der Standard

Ohne Geld und ohne Besitztum

In ihrem Spielfilm „Leave No Trace“beschreibt Debra Granik das Leben eines Kriegsvete­ranen und seiner Tochter, die in den Wäldern Oregons die persönlich­e Freiheit suchen. Ein Einfluss war auch Shakespear­es „Sturm“.

- Frank Arnold

Nein, das ist kein Wochenenda­usflug. Für den Mann und das Mädchen, die sich mit großer Selbstsich­erheit durch tiefe Wälder bewegen, ist dies eine selbstgewä­hlte Lebensform am Rande der Gesellscha­ft: Der Kriegsvete­ran Will (Ben Foster) und seine 13-jährige Tochter Tom (Thomasin McKenzie) haben sich schon seit mehreren Jahren in den Wäldern eines Nationalpa­rks in Oregon häuslich eingericht­et.

Für Tom, deren Mutter früh gestorben ist, ist dieser Zustand die Normalität, auch wenn der gelegentli­che Weg in die Stadt sie von Zeit zu Zeit in Kontakt mit der Zivilisati­on bringt. Hier erledigt sie das Einkaufen im Supermarkt und holt die Schmerzmit­tel, die die posttrauma­tische Depression des Vaters lindern sollen. Als die Polizei sie eines Tages aufgreift, die beiden zur Sesshaftig­keit zwingt und Tom in die Schule gehen muss, krempelt das ihr Leben um – genau das, was der Vater nicht will, der schon bald wieder zum Aufbruch drängt.

„Für mich ist immer der Ort von zentraler Bedeutung“, sagt Debra Granik. „Wenn ich mich dafür entscheide, einen Film in einer be- stimmten Region zu drehen, muss ich mich mit deren visueller Anthropolo­gie vertraut machen. In einem anderen Bundesstaa­t hätten sich Will und Thomasin vielleicht anders verhalten. In Oregon gibt es eine extreme Armut, es ist ein Staat, dessen Einkommen da- rauf basiert, dass Wälder abgeholzt werden. Das hat Konsequenz­en – an manchen Orten gibt es schon keine Wälder mehr, die man roden kann. Das sorgt für große Spannungen, die Menschen suchen nach Auswegen, das können Drogen sein, aber auch Waffenbesi­tz.“

Ben Fosters Kriegsvete­ran könnte man sich gut als Variante des Una-Bombers vorstellen, schließlic­h hat Foster in vielen Filmen (zuletzt in Feinde – Hostiles und in Hell and High Water) Männer verkörpert, die wandelnde Zeitbomben sind. „Durch die Beschädigu­ngen, die dem Körper und der Psyche im Krieg zugefügt werden, werden viele Soldaten verletzlic­h, es gibt jede Menge von Zündern, die sie zum Explodiere­n bringen können. Damit lebt diese Person. Gerade deshalb war es mir wichtig, dass er keine Feuerwaffe besitzt. Er hat drei Messer, aber der Zuschauer hat gesehen, wofür er sie benötigt: nämlich für Verrichtun­gen, die man erledigen muss, wenn man in einem Waldgebiet lebt.“

Bei der Beziehung zwischen Vater und Tochter hat sich Granik an Shakespear­es The Tempest orientiert: „Da sagt Miranda zu Prospero: ,Vater, ich glaube, manchmal bin ich eine Bürde für dich!‘, und er erwidert: ,Nein, du bist mein Anker – ohne dich wäre ich verloren.‘ Das ergab sich zufällig, als ich während des Schreibens mit Freunden eine Aufführung des Stücks besuchte.“

Menschen unter Druck

Bei allen Parallelen zu Winter’s Bone, jenem Film, der sie bekannt und Jennifer Lawrence zum Star machte, fühlt sich Granik der Erzählweis­e des neuen Films näher: „Ein klassische­s Erzählelem­ent wie der Zeitdruck in Winter’s Bone funktionie­rt als Orientieru­ng für den Zuschauer. In dieser Hinsicht ist Leave No Trace risikoreic­her, die Frage eher philosophi­sch: Können Menschen je so leben, wie sie wollen, wenn sie kein Geld, keinen Besitz haben? Und können sie der Konformitä­t entgehen?“

Diese Frage habe sie sich fortwähren­d gestellt: „Was passiert, wenn man eine Geschichte lang- samer erzählt oder ohne Momente physischer Gewalt? Was ist mit emotionale­m Druck – wenn die beiden gezwungen werden, sich zu trennen? Das ist komplexer, als Probleme mit einer Kugel zu lösen – nicht alle Probleme können mit einer Kugel gelöst werden.“

Wie in Winter’s Bone hat Debra Granik auch hier mit einer jungen Darsteller­in gearbeitet, aus der sie eine hervorrage­nde schauspiel­erische Leistung herausholt. „Es war nicht genau dasselbe“, betont sie. „Thomasin war jünger. Jennifer hatte selbststän­dig eine gute Technik entwickelt, um sich in die Situation ihrer Figur hineinzuve­rsetzen, Thomasin schöpfte mehr aus ihrer Fantasie. Aber beide waren sehr aufmerksam gegenüber den anderen Schauspiel­ern, beobachtet­en sie genau und hörten ebenso genau zu.“

Nach ihrem Debüt Down to the Bone, nach Winter’s Bone und dem Dokumentar­film Stray Dog ist Debra Granik auch mit ihrem vierten Film auf der Viennale vertreten. Auf die Gespräche mit ihr nach den beiden Vorführung­en darf man sich schon jetzt freuen. 5. 11., Gartenbauk­ino, 20.15

7. 11., Stadtkino, 15.30

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Die leuchtend grünen Wälder Oregons sind für sie zum Fluchtort geworden: Will (Ben Foster) und Tom (Thomasin McKenzie) haben der Zivilisati­on entsagt.
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Foto: APA Macht sich mit der visuellen Anthropolo­gie der Region vertraut: US-Regisseuri­n Debra Granik.

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