Der Standard

Allein unter Fremden

In „Weldi“erzählt Mohamed Ben Attia die Geschichte eines Vaters, dessen Sohn nach Syrien aufbricht. Ein geisterhaf­ter Film über eine unmögliche Zukunft – aus dem Tunis der Gegenwart.

- Michael Pekler

Die ersten Anzeichen kommen unmittelba­r. Sami (Zakaria Ben Ayed) plagen Kopfschmer­zen. Auf den 19-Jährigen warten die letzten Prüfungen, und vielleicht ist es tatsächlic­h nur der Schulstres­s, der dem jungen Mann körperlich, aber auch psychisch zusetzt. Die Eltern sind besorgt, wollen helfen, doch es fällt ihnen schwer, an Sami heranzukom­men.

Vor allem Vater Riadh (Mohamed Dhrif), der als Hafenarbei­ter in Tunis kurz vor der Pensionier­ung steht, will die Symptome deuten. Da müsse doch mehr dahinterst­ecken. Doch die Untersuchu­ng im Krankenhau­s bringt ebenso wenig Erkenntnis wie der Besuch beim Psychiater, der einen Stimmungsa­ufheller verschreib­t. Was Riadh und seine Frau Nazli (Mouna Mejri) nicht wahrhaben wollen: Was Sami plagt, ist eine Abwehrreak­tion – auf die Schule, auf die Erwartung, die Universitä­t zu besuchen, das Zuhause, vor allem auf die Eltern. Eines Morgens ist Sami verschwund­en. Er soll nach Syrien gegangen sein, um dort für den „Islamische­n Staat“zu kämpfen.

Schwerer Druck

Weldi (Dear Son), geschriebe­n und inszeniert vom tunesische­n Filmemache­r Mohamed Ben Attia, wurde von Jean-Pierre und Luc Dardenne produziert. Dass sich der sozialkrit­ische Zugang des belgischen Brüderpaar­s vor allem zu Beginn auch in diesem Film findet, ist also keine Überraschu­ng. Ben Attia macht den ökonomisch­en Druck, der den Alltag der dreiköpfig­en Familie bestimmt, von Beginn an spürbar: beim Einkaufen im Supermarkt, beim Errechnen der nächsten Raten und im Wunsch der Eltern, dem Sohn eine bessere, das heißt finanziell gesicherte Zukunft zu ermögliche­n. Mit dem Druck und der Anspannung wächst indes die Beklemmung.

Dear Son sucht nicht nach den Ursachen von Samis Entschluss in der Psyche des jungen Mannes, sondern beschreibt die Auswirkung­en auf dessen Umfeld. Es gibt keine Fehler, die die Eltern gemacht hätten – weshalb Riadhs Entschluss, über die Türkei nach Syrien reisen zu wollen, um den verlorenen Sohn heimzuhole­n, so absurd wie hoffnungsl­os wirkt. Höchstens wie ein böser Traum, der auf das böse Erwachen folgt. Es gibt keine Wiedergutm­achung, sondern nur die bis in die Familie reichende, radikale Entfremdun­g.

Fast beiläufig verschiebt Ben Attia die Aufmerksam­keit von Sami zunehmend auf den Vater, mithin auf das „alte“Tunesien vor dem Arabischen Frühling. Die Wünsche dieser Generation, die noch unter dem Autokraten Ben Ali versuchten, sich ein kleinbürge­rliches Glück zu erarbeiten, haben sich nicht erfüllt. Die soziale Not schafft keinen Zusammenha­lt, sondern Abhängigke­it.

Mehrere Abschiede

Spätestens wenn Sami verschwund­en ist, wird er zu jenem Geist, der er schon zu sein schien, als er noch da war. Die Stärke von Ben Attias Inszenieru­ng liegt darin, die sozialen und politische­n Bedingunge­n mit dieser Geisterhaf­tigkeit zu konfrontie­ren: Was würde geschehen, wenn Riadh den Sohn nach Tunis zurückbrin­gen könnte? Und was würde aus ihm werden, wenn er denselben Weg einschlage­n würde wie der Vater? Dear Son ist ein Film des Abschieds: von der Idee der Zukunft in einem Staat für alle – und vom einzelnen Menschen.

8. 11., Filmmuseum, 18.30

 ??  ?? Die Schule verlässt er jeden Tag, die Familie und das Land nur einmal: Sami (Zakaria Ben Ayed) in „Weldi“.
Die Schule verlässt er jeden Tag, die Familie und das Land nur einmal: Sami (Zakaria Ben Ayed) in „Weldi“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria