Der Standard

Mit weit geschlosse­nen Augen

In seinem Neo-Noir „Long Day’s Journey Into Night“(„Di qiu zui hou de ye wan“) überwindet der Chinese Bi Gan die Grenzen zwischen Träumen und Wachsein – auch mittels einer hypnotisie­renden 3-D-Sequenz.

- Dominik Kamalzadeh

Im Blockbuste­rkino ist die 3-DTechnolog­ie das Verspreche­n einer immersiven Kinoerfahr­ung, allerdings wird sie selten besonders zwingend eingesetzt. Abgesehen von Ausnahmen wie Jean-Luc Godards Goodbye to Language, Werner Herzogs Doku Die Höhle der vergessene­n Träume

oder Gaspar Noés Sex-Naherfahru­ng Love gibt es noch wenige Versuche, sie für das Autorenkin­o fruchtbar zu machen. Auch um das Interesse einer jüngeren Generation für seine Arbeit zu wecken hat der chinesisch­e Autorenfil­mer Bi Gan, wie er selbst sagt, in seinen zweiten Film Long Day’s Jour

ney Into Night ( Di qiu zui hou de ye wan) eine einstündig­e 3-D-Se- quenz eingefügt. Und weil diese noch aus anderen Gründen von genuin filmischer Intelligen­z zeugt, darf man sagen, dass sie zum Aufregends­ten zählt, was damit bisher bewerkstel­ligt wurde. Bereits mit seinem Debüt Kaili

Blues (2016) hat sich der erst 29jährige Bi Gan, der aus der südwestlic­hen Provinz Guizhou stammt, als eines der vielverspr­echendsten neuen Talente des Weltkinos empfohlen. Sein Kino lässt geradlinig­es Erzählen hinter sich, verschränk­t stattdesse­n unterschie­dliche Zeitebenen und interessie­rt sich für das Labyrinth der Erinnerung, für erträumte oder übergangen­e Bildräume, die dennoch eng mit der gegenständ-

lichen Realität verbunden sind. Andrei Tarkowski, Wong Kar-wai oder David Lynch zählen zu den Regisseure­n, mit denen sein Stil schon verglichen wurde. Long Day’s Journey Into Night

baut im Wesentlich­en auf dem Genrearsen­al des Film noir auf – Bi Gan nennt Vertigo und Double

Indemnity als zwei Einflüsse. Luo Hongwu (Huang Jue), die von Reue getriebene Hauptfigur, kehrt für das Begräbnis seines Vaters nach Kaili zurück, wo ihn die Erinnerung an seinen ermordeten Freund Wildcat (Lee Hong-chi) und an die einstige Geliebte Wan Qiwen (Tang Wei) einholt, eine Frau, die sich mit einem Gangster einließ und verschwund­en ist.

Bi Gan überlässt es jedoch dem Zuschauer, aus den fragmentar­ischen Szenen, bei denen nie ganz eindeutig ist, was in der Gegenwart und was in der Erinnerung des Helden angesiedel­t ist, eine Geschichte zu weben. Luo bewegt sich durch eine eher ahnungsvol­le als auf Indizien ausgericht­ete Welt der mysteriöse­n Zeichen. In den auch farblich stilisiert­en, fast erstarrt wirkenden Bildern scheinen die Figuren wie in ihren Posen eingefrore­n oder zur Wiederholu­ng bestimmter Routinen verdammt.

Schon in diesem ersten Teil des Films verschwimm­en mithin die Grenzen zwischen Vorstellun­g und Realität. Danach wechselt Bi Gan gänzlich in das Reich des Traums – statt in Puzzleteil­en präsentier­t sich der Film nun in einem als Plansequen­z in einem Stück gedrehten Kontinuum in 3-D, so als hätten sich die Impression­en in Luos unbewusste­r Gedankenwe­lt verwandelt und neu verleimt. Man muss die seltsamen Begegnunge­n und Vorkommnis­se gar nicht einzeln anführen – ein Pingpong-Spiel mit einem Buben, dessen Ausgang den weiteren Verlauf bestimmt, bringt etwa den Zufall mit ins Spiel –, jedenfalls übersetzt der Film ein wie schwerelos dahindrift­endes Bewusstsei­n und dessen Assoziatio­nen in einen fasziniere­nden Bilderraus­ch. 3. 11., Gartenbau, 23.30

 ??  ?? Mysteriöse Begegnunge­n in der Realität, Erinnerung und Einbildung: „Long Day’s Journey Into Night“von Bi Gan ist ein verführeri­sches Bilderräts­el.
Mysteriöse Begegnunge­n in der Realität, Erinnerung und Einbildung: „Long Day’s Journey Into Night“von Bi Gan ist ein verführeri­sches Bilderräts­el.

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