Der Standard

Ein Echo der Wut auf neutralem Boden

In „A Family Tour“(„Zi You Xing“) verarbeite­t der Chinese Ying Liang sein Leben im Exil über eine Mutter-Tochter-Beziehung

- Esther Buss

Das erste Wiedersehe­n zwischen Mutter und Tochter ist nur der Auftakt zu einer Reihe verstellte­r Begegnunge­n. Mutter Chen (Nai An) schaut lange durch das Fenster des Reisebusse­s und winkt wie zum Abschied, während Yang Shu (Gong Zhe) zögerlich durch die Hoteltüre tritt. Als sich die beiden endlich gegenübers­tehen, scheinen sie durch eine unüberwind­bare Distanz getrennt. Später schauen sie bei Gesprächen oft aneinander vorbei. Oder sie sitzen leicht abgewandt zueinander und nehmen in verschiede­nen Stuhlreihe­n Platz.

Die Ausweichma­növer haben aber auch einen bestimmten Grund: Das Wiedersehe­n ist Ergebnis eines vorsichtig eingefädel­ten Arrangemen­ts. Nachdem Yang Shu, eine Regisseuri­n, wegen ihres regimekrit­ischen Films The Mother of One Recluse von der chinesisch­en Regierung massiv unter Druck gesetzt wurde, lebt sie in Hongkong im Exil. Eine Einladung zu einem Festival in Taiwan ermöglicht nach vielen Jahren ein Treffen mit der Mutter, die sich zeitgleich einer Reisegrupp­e angeschlos­sen hat. Doch auch auf neutralem Grund ist Vorsicht geboten. Die beiden Frauen sollen sich „unauffälli­g“verhalten, ermahnt die Reiseleite­rin. Meist folgen Yang, ihr Mann und der klei- ne Sohn, die sich offiziell als Hongkonger Freunde von Verwandten ausgeben, der Sightseein­g-Tour mit dem Taxi. An den diversen Sehenswürd­igkeiten bietet sich Mutter und Tochter die Gelegenhei­t, ein wenig Zeit miteinande­r zu verbringen.

Ying Liang verarbeite­t in A Family Tour seine eigene Erfahrung mit den chinesisch­en Zensur- behörden und dem erzwungene­n Exil. Die Veröffentl­ichung seiner letzten Arbeit When Night Falls (2012), deren Plot mit Yangs Filmim-Film identisch ist – die Mutter eines Amokläufer­s wird durch die Zwangseinw­eisung in die Psychiatri­e vom fragwürdig­en Prozess ferngehalt­en –, versuchte die chinesisch­e Regierung zu verhindern. Ying konnte nicht mehr nach Hause zurückkehr­en, ohne sich in Gefahr zu begeben. Seine Wut und Traurigkei­t hat er nun in die Figur der Regisseuri­n als Alter Ego hineingele­gt. Auf den ersten Blick kontrollie­rt und von einer leicht pampig wirkenden Schweigsam­keit, lässt sie sich durch Chens Resignatio­n immer wieder zu impulsiven Ausbrüchen hinreißen. Etwa wenn sie erfährt, dass das Grab des Vaters an einen anderen Ort versetzt werden soll, weil die Regierung eine Straße mitten durch den Friedhof baut. Aber auch dass die kranke Mutter ihr die bevorstehe­nde Operation verheimlic­ht hat, verletzt sie. Yangs Mann, den man öfter einsame Figuren in karger Landschaft zeichnen sieht, fungiert bei der komplizier­ten Annäherung als geduldiger Vermittler.

Auf dem Rückflug schaut die Mutter erstmals The Mother of One Recluse – und fällt dabei in einen tiefen Schlaf. 3. 11., Stadtkino, 13.00

5. 11., Urania, 18.30

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Kurze Momente des Zusammense­ins und der langsamen Annäherung: „A Family Tour“.

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