Der Standard

Leben mit Befristung

Im Wissenscha­ftsbetrieb sind Vollzeitan­stellungen selten. Um über die Runden zu kommen, braucht man mehrere Aufträge, wie ein Beispiel zeigt.

- Veronika Bohrn Mena

Sechs Tage die Woche, montags bis samstags immer von zehn bis 19 Uhr, ist Marlene in der Universitä­tsbiblioth­ek, um zu arbeiten. Zwölf Jahre lang geht das schon so. Ein Lehrauftra­g folgt dem nächsten. Für Stellen außerhalb der Hochschule bekam sie in den letzten zehn Jahren nur Absagen. Sie sei überqualif­iziert, oder sie würde bei der nächsten Gelegenhei­t wieder an die Uni zurückkehr­en. Auch dass sie keine praktische Erfahrung habe, gehört zu den üblichen Absagegrün­den.

Befristete­r Einsatz

Von den rund 56.600 Beschäftig­ten an Universitä­ten waren im Winterseme­ster 2016 kaum 2500 Personen gut abgesicher­te Professore­n; sie stellen nur elf Prozent des wissenscha­ftlichen Personals. Knapp 80 Prozent aller Beschäftig­ungsverhäl­tnisse waren befristet. Hinzu kommt, dass die Dienstvert­räge in der Regel nur ein geringes Beschäftig­ungsausmaß umfassen. Nur knapp ein Drittel der Beschäftig­ten kommt einer Vollzeitan­stellung nahe.

Seit ihrem Einstieg in den Wissenscha­ftsbetrieb hatte Marlene allein mit der Universitä­t Wien rund 16 verschiede­ne Vertragsve­rhältnisse hintereina­nder oder auch parallel. Zwölf davon waren Lehraufträ­ge; der Rest waren Stellen im Rahmen von Forschungs­projekten, die jeweils über drei bis neun Monate gingen. Außerdem hatte sie eine einjährige Projektste­lle an der Universitä­t Salzburg mit mehreren Lehraufträ­gen, weitere Lehraufträ­ge an der Uni Klagenfurt und seit einigen Jahren auch Lehraufträ­ge an der FH Oberösterr­eich. Das war und ist notwendig, weil ein Lehrauftra­g nicht ansatzweis­e zum Überleben reicht und sie sich ohne Forschungs­stelle um mindestens vier Lehraufträ­ge pro Semester bemühen muss, um halbwegs über die Runden zu kommen.

Eine Lehrverans­taltung, die sie allein abhält, bringt ihr an einer Uni rund 400 Euro pro Monat ein. Die FHs zahlen ein bisschen weniger und schließen Verträge – im Gegensatz zu den Unis – ausschließ­lich für fünf Monate ab. Aktuell hält sie drei Lehrverans­taltungen an der FH Oberösterr­eich und eine an der Uni Salzburg ab. Ihre Tage verbringt sie mit Literaturv­orbereitun­gen, dem Verfassen von Skripten, der Erstellung und Benotung von Prüfungsbö­gen, dem Korrigiere­n der vielen Seminararb­eiten und der Beantwortu­ng von unzähligen E-Mails ihrer Studierend­en.

An der Armutsgren­ze

Ein Leben an der Armutsschw­elle ist für Marlene die Normalität. Ein paar Monate lang schafft sie es, mit 900 Euro pro Monat über die Runden zu kommen. „Es ist völlig klar, dass ich es mir nicht leisten könnte, ein Kind zu bekommen. Ich bemühe mich zwar darum, woanders unterzukom­men, aber ich bekomme nichts. Ich könnte mir den Luxus eines Kindes also gar nicht leisten.“In Deutschlan­d, wo die Arbeitsbed­ingungen an den Hochschule­n sehr ähnlich sind, gaben nur zwölf Prozent der kinderlose­n Promoviere­nden oder Postdoktor­anden an, keinen Kinderwuns­ch zu haben. Berufliche Gründe wurden als zentral für das Aufschiebe­n von Kinderwüns­chen genannt. Etwa 49 Prozent der Frauen und 42 Prozent der Männer im akademisch­en Bereich bleiben wie Marlene kinderlos.

Marlene wird erst im Dezember die Zu- oder Absagen für das Sommerseme­ster, beginnend im März, bekommen. Im schlimmste­n Fall kann es vorkommen, dass sich erst mit Ende der Anmeldepha­se im März herausstel­lt, ob die Lehrverans­taltung stattfinde­n wird. Es ist kurz vor Semestersc­hluss, Marlene wird nach unserem Gespräch wieder in die Bibliothek gehen und das Wochenende durcharbei­ten. Auf sie warten zwölf bis 15 Seiten lange Seminararb­eiten von 20 Studierend­en, die sie bis nächste Woche noch lesen muss.

VERONIKA BOHRN MENA ist in der Interessen­vertretung der GPA-djp mit dem Schwerpunk­t „Atypische Beschäftig­ung“tätig. Ihr Buch „Die neue ArbeiterIn­nenklasse – Menschen in prekären Verhältnis­sen“wird am 8. November in der AK-Bibliothek in Wien präsentier­t.

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